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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume
Autoren: Thomas Sautner
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Stall neben einem offenen Sack Unkrautvernichtungsmittel gefunden habe. Ich rührte mich nicht, sei schneeweiß im Gesicht und mein Körper schon kalt. Er glaube, hat der Knecht gekeucht, er glaube, ich sei tot.
    »Aber woher«, hat mein Vater seelenruhig gesagt und mit der Hand eine abwiegelnde Geste gemacht, »das bisschen Unkrautvernichtungsmittel wird ihn schon nicht umbringen.« Auf die Frage des Huber-Bauern, ob sie nicht wenigstens nachschauen sollten, was mit mir sei, hat mein Vater gesagt, weil er gerade ein gutes Blatt in der Hand gehabt hat: »Das hättest du wohl gern. Nein, nein. Komm, spiel weiter. Der erholt sich schon wieder.«
    Mein Vater hat recht behalten. Der Knecht, der von meinem Vater wenig später rausgeschmissen worden ist, weil er seine Nase immer in fremde Angelegenheiten gesteckt hat, hat bald erleichtert festgestellt, dass ich wieder atme. Kurz darauf hat sich mein Körper von dem Gift befreit, indem er es aus allen möglichen Öffnungen hat rinnen lassen.
    »Unkraut vergeht nicht«, hat mein Vater selbstsicher gesagt. Sein Gesicht aber hat kurz darauf angeblich einen Ausdruck angenommen, der seine Enttäuschung über die Sache selbst verraten hat. So hat es mir zumindest der Huber-Bauer im Rausch erzählt, und dann hat er mir laut lachend mehrere Male auf die Schulter geklopft und die Worte meines Vaters wiederholt: »Unkraut vergeht nicht! Oh nein! Unkraut vergeht nicht!«
    Zu der Zeit, als ich das Unkrautvernichtungsmittel in mich gestopft hab, muss ich knapp vier Jahre alt gewesen sein. Damals und auch lange danach habe ich zwei Dinge noch nicht gewusst: Erstens, dass nicht ich der Grund bin für das Sprichwort »Unkraut vergeht nicht«. Und zweitens, dass der Seifritz-Bauer und die Seifritz-Bäuerin nicht meine richtigen Eltern sind. Das habe ich erst vor Kurzem erfahren. Ich bin fast erleichtert darüber, dass sie nicht meine richtigen Eltern sind. Weißt du, ich habe mich immer wieder gefragt, warum sie mich schlechter behandeln als ihre anderen Kinder, schlechter fast als die Knechte. Jetzt weiß ich warum. Jetzt weiß ich, dass ich nichts falsch gemacht hab und mir auch nichts vorwerfen muss. Es ist nicht daran gelegen, wie ich war. Es ist nur daran gelegen, wer ich war.
    Etwas Wichtiges habe ich noch nicht erzählt. Ich finde, das solltest du wissen, wenn du schon so nett bist und mir zuhörst. Was ich noch nicht erwähnt hab, ist, dass mich die Menschen im Ort nicht nur für einfältig halten. Mein Körper hat nämlich eine dumme Angewohnheit: Wenn ich Menschen sehe, die anderen wehtun, dann verkrampfen sich die Muskeln meiner Hände und Arme. Steinhart werden sie dann. Ohne dass ich es will, zieht es meine Arme zum Gesicht, schau, ungefähr so, und Finger, Hände und Unterarme spannen sich mit aller Kraft nach innen. Sie schauen dann aus wie die Beine einer toten, zusammengekauerten Spinne. In der blöden Stellung bin ich gefangen, bis die Panik nach und nach wieder aus meinem Kopf rieselt. Dass auch diese lästige Angewohnheit etwas damit zu tun hat, dass der Seifritz-Bauer und die Seifritz-Bäuerin nicht meine richtigen Eltern sind, weiß ich auch erst seit Kurzem. Jedenfalls ist es so, dass die Menschen auch das Wort Krüppel in den Mund nehmen, wenn sie auf mich zeigen. Um ganz ehrlich zu dir zu sein, ich bin also der schwachsinnige Krüppel dieser Gegend. Dass ich das nicht ernst nehmen kann und darüber lachen muss, ja – das könnte durchaus bedeuten, dass sie recht haben.

2.
    J akob roch den Regen, lange bevor der erste Donner über den Himmel rollte. Er hielt kurz inne und streckte die Nase hoch in die Luft. Über dem Eigenwald hatte sich eine Wolkenfront breit gemacht. Wie ein mächtiges Tier hockte sie da, wie ein mächtiges, hungriges Tier auf der Lauer, kurz vor dem Sprung. Jakob packte die Heugabel und ließ sie noch rascher ins frisch geschnittene Gras gleiten. In üppigen Büscheln schwang er es auf eine der Dutzenden Heukraxen, die er tags zuvor errichtet hatte. Entastete, knochentrockene Fichtenwipfel, kreisförmig verkeilt. Mehrere Meter standen die Kraxen auseinander, die meisten bereits über und über beladen mit Gras.
    Jakob arbeitete hart. Er genoss es, sog mit tiefen Zügen das saftige Grün ein. Der September neigte sich dem Ende zu, und so würde es für heuer die letzte Mahd sein. Wie klug der Schöpfer doch gewesen ist, als er die Jahreszeiten geschaffen hat, überlegte Jakob, ewige Abwechslung hat er uns damit geschenkt. Weich wippten die Halme
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