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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Autoren: Arnold Retzer
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[230]   Die Erfahrungen mit der Welt werden nicht ignoriert.
    Mit der absolut gesetzten und daher notwendig ignoranten Autonomie kann man seine Not haben. Nicht das romantische, sich autonom gebärdende Selbst, sondern ein Selbst, das seine Gefährdungen und seine Abhängigkeiten in Rechnung stellt, wird sich selbst, die anderen und auch die umgebende Welt menschlich gestalten. Die Stimmung profitiert allemal.
    Nun hat sich seit der Zeit der Romantik einiges verändert. Aber die romantischen Ideen der Freiheit und Autonomie haben sich erhalten, an Wert gewonnen und zeigen heute noch stärker und verbreiteter als vor zweihundert Jahren ihre destruktiven Wirkungen.

Gehorsam sein! – Leistung bringen! – Erfolg haben!
    Die massenhafte Zunahme der Depression verläuft parallel zur Ablösung der Disziplinargesellschaften des 19. Jahrhunderts durch die Leistungsgesellschaften in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts und schließlich zu den seit Beginn dieses Jahrhunderts sich immer weiter Geltung verschaffenden Erfolgsgesellschaften.
    Die Disziplinargesellschaft brachte ein diszipliniertes Individuum hervor, dessen Grundwerte in Gehorsam, Anpassung und Konfliktvermeidung zu bestehen hatten. Die Leistungsgesellschaft bevölkerte sich mit Individuen, denen Autonomie, Ehrgeiz und Initiative zentrale Grundwerte waren. Ausgestattet mit diesem Selbstverständnis, sollten die versprochenen Gratifikationen – der Lohn der Leistung – erreicht werden.
    In der inzwischen sich ausbreitenden Erfolgsgesellschaft erfahren die Autonomie und der Ehrgeiz eine weitere Wertsteigerung. Aber Lohn und Erfolg der Leistung sind nicht mehr sicher. Der Erfolg koppelt sich von der Leistung ab. Bemühte man sich in der Leistungsgesellschaft, das notwendige Soll zu leisten, um den Erfolg zu sichern, ist nun der Wille zum Soll zum Müssen gesteigert, während gleichzeitig der Erfolg immer öfter ausbleibt. In vielen persönlich bedeutsamen Lebensbereichen zeigen sich diese Veränderungen des Selbstverständnisses – in Bezug auf Glück [231]   , Freiheit, Gesundheit, Sexualität und vieles andere mehr.

Wenn Erfolg zur Pflicht wird
    Nachdem das Streben nach dem Glück zu einem verbrieften Recht erklärt wurde [232]   , konnte es zur Pflicht werden, sein Leben autonom als ein glückliches zur Erfüllung zu bringen. Der Schmied seines Glückes zu sein erscheint nicht nur als eine lohnende Aufgabe, man ist es sich schuldig. Hat man trotz bester Absichten, guten Willens und vielerlei Anstrengungen das Glück jedoch wieder einmal nicht erreicht, dann ist man nicht nur nicht glücklich, sondern auch noch schuld daran, dass man nicht glücklich ist. So erzeugt die Pflicht zur guten Stimmung die miese Stimmung!
    Mancher erinnert sich noch, dass es eine Zeit gegeben haben soll, in der die Sexualität mit vielerlei Verboten und Tabus belegt war und auf ihre Befreiung wartete. Das Warten wurde belohnt. Spätestens in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde dank der Studenten- und Jugendbewegung die Sexualität befreit und das Recht auf eine freie Sexualität erkämpft. Eine disziplinierende und unterdrückende Sexualmoral hatte ihr Ende gefunden oder zog sich beleidigt, aber mit deutlich eingeschränkter Bedeutung in gesellschaftliche Nischen zurück. Nun begannen die sexuellen Befreiungsfeiern landauf, landab und in den Städten ohnehin. Inzwischen ist das Recht auf eine freie Sexualität so selbstverständlich, dass sie zur Pflicht geworden ist. Es gehört nun zu den Grundaufgaben eines jeden freien und autonomen Menschen, seine Sexualität zu verwirklichen und dafür zu sorgen, dass er sexuell erfolgreich ist und bleibt – immer, überall und auch im hohen Alter. Dennoch sind sexuelle Probleme nicht aus der Welt verschwunden. Aber sie sind nicht mehr die, die sie mal waren. Bestanden die sexuellen Beschwerden zu den Zeiten der disziplinierenden Sexualmoral bei Männern in vorzeitigem Samenerguss und bei Frauen in Scheidenkrämpfen, so bestehen sie in der modernen Erfolgsgesellschaft in sexueller Lustlosigkeit. [233]   Wenn man darf und deshalb soll, muss man, und wenn man muss, dann kann man eben nicht mehr. Für miese Stimmung ist gesorgt. Sexuelle Lustlosigkeit gehört zu den Hauptsymptomen von Depressionen. [234]  
    Nachdem die gesellschaftlichen Verbote abgewirtschaftet hatten, hat die aufgewertete Autonomie das Wollen und Sollen an ihre Stelle gesetzt. Nun wird die Erfahrung der Ohnmacht bei ausbleibendem Erfolg
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