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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Autoren: Arnold Retzer
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wichtige Etappe im Prozess der Vergebung. Wir haben es hierbei mit einem komplexen Vorgang von Erinnern und Vergessen zu tun. Das Vergessen der Schuld und der sich daraus ergebenden Ansprüche setzt die Erinnerung an die Schuld voraus. Hier verbindet sich die Amnestie mit der Amnesie. Die Vergebung setzt voraus, dass wir uns an das erinnern, was wir vergeben und aufgeben.
    Das Vergeben ermöglicht oder erleichtert aber das Vergessen: Anamnese + Amnestie + Amnesie.
    Wie in der alten Geschichte, in der ein Mann sich jeden Abend der Mühe und Bitternis des Tages erinnert und all dies auf einem Bogen Papier aufschreibt. Nachdem er es aufgeschrieben hat, fängt er an zu weinen, die Tränen fallen auf das Papier und löschen das Geschriebene auf. Das Papier ist wieder leer, und der Mann kann am nächsten Abend wieder das Leid, das ihm am Tag widerfahren ist, aufschreiben.

Warum der Ausstieg aus der Depression nicht leichtfällt und oft lange dauert
    Der Ausstieg aus der Depression kann, so merkwürdig das auf den ersten Blick scheinen mag, Ängste und Befürchtungen auslösen. Auf sie wollen wir im Folgenden noch kurz eingehen.
    Der moralische Mehrwert ist das Problem
    So leidvoll die Depression auch erfahren wird – die Aufgabe fest verankerter Vorstellungen erscheint als (Teil-)Verlust der eigenen Identität. Und wenn man Ansprüche an andere aufgibt, verliert man zudem noch die moralische Überlegenheit, die man für sich in Anspruch nehmen konnte, solange andere einem etwas schuldig blieben. Die Vergebung beendet durch Schuldenerlass die moralische Selbstaufwertung.
    Die Hoffnung ist das Problem
    Vergebung bedeutet auch, Illusionen und Hoffnungen aufzugeben: Die Hoffnung, den Sieg über erlittenes Unrecht davonzutragen, die Hoffnung auf die Befriedigung erhobener Ansprüche; die Hoffnung, den Ansprüchen an sich selbst durch vermehrte Anstrengung Genüge zu tun, durch Wiedergutmachung oder Sühneleistungen.
    Die Hoffnung auf all das aufgeben zu müssen, scheint eine der stärksten Hindernisse beim Ausstieg aus der Depression zu sein und eine der wichtigsten Beweggründe für die Laufzeitverlängerung von Depressionen.
    Ein Depressiver formuliert es so: »Nach meinem Verständnis und Erleben dauert auch ein Nachtgang so lange, bis sich die tätige Einsicht einstellt, dass es ist, wie es ist und so seine Richtigkeit hat. Wenn kein Aspekt der Depression mehr einen, und sei es noch so absurden, Vorteil verspricht, ist Ende. Paradoxerweise muss man erst jede Hoffnung aufgeben, um wieder hoffen zu dürfen.« [228]  
    Das Gesicht wahren ist das Problem
    Vergeben und Aufgeben gehen mit der Furcht des Gesichtsverlustes einher. Diese Furcht ist umso größer, je intensiver man sein Gesicht mit dem bisherigen Selbstporträt seines Gesichtes verwechselt hat, mit dem, was man für sein Gesicht hält. Die Folge: Man nimmt weitere entstellende Gesichtsoperationen vor, damit das Selbstporträt so bleiben kann, wie es war. »Ich habe ein Selbstporträt gemalt, das Ohr ist mir nicht gelungen, da habe ich es abgeschnitten und weggeworfen!«
    Leben ruiniert – Gesicht gewahrt!
    Das Ansehen ist das Problem
    Der befürchtete Gesichtsverlust wiegt noch um einiges schwerer, wenn er öffentlich zur Kenntnis genommen wird. Man fürchtet um sein Ansehen bei anderen. Man fürchtet, vor anderen in einem schlechten Licht zu erscheinen und sein leidvoll aufgebautes und mit noch mehr Leid aufrechterhaltenes positives Image zu verlieren: Wer aufgibt, ist ein Loser, ein Weichei und Schlimmeres. Der Profifußballer Sebastian Deisler verwandelte sich in den Augen der anderen von »Basti Fantasti« zur »Deislerin«.

12
    Unsere depressive Erfolgsgesellschaft
    Die Geburt der Depression aus dem Geiste der Romantik
    Depressionen gedeihen auf dem Boden der Romantik. Romantik führt die Überzeugung mit sich, dass der individuelle Wille stärker ist als alle äußeren Strukturen dieser Welt. Der romantische Mensch ist in der Lage, sich in völliger Freiheit jede beliebige Form zu geben. [229]   Autonomie wird zum höchsten Wert. Das romantische Subjekt ist in seinem Anspruch absolut und will sich nicht als begrenzt akzeptieren. Depression ist der Sieg der Romantik über die Vernunft.
    Das romantische Selbst muss am Widerstand der Wirklichkeit scheitern. Die Proklamation der romantischen Freiheit führt in die Gefangenschaft. Die Freiheit der Vernunft ist hingegen die Einsicht in die Notwendigkeit, der man ausgesetzt ist, oder die resignative Reife:
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