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Hinter der Nacht (German Edition)

Hinter der Nacht (German Edition)

Titel: Hinter der Nacht (German Edition)
Autoren: Claudia Walter
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Ankunft
    Clarissa
     
    Monoton
prasselte der Regen in dicken Tropfen gegen die Scheiben und lief dann in
Bächen an ihnen herunter. Ich starrte hinaus in die endlose, trostlose
Dunkelheit, und je weiter der Bus mich nach Norden brachte, desto tiefer sank
mein Herz. Das gleichgültige Brummen des Motors zerrüttete meine Nerven und
fraß sich immer tiefer in mich hinein. Ich hatte das Gefühl, mich dem Ende der
Welt zu nähern.
    Es war nie mein
Traum gewesen, Deutschland zu verlassen. Dass ich es jetzt doch tat, war allein
meinen Vätern zu verdanken. Lou, meinem leiblichen Vater, von dem ich außer
seinem Nachnamen und dem exotischen Aussehen bisher nie etwas bekommen hatte –
nicht, weil er nichts geben, sondern weil Amanda, meine Mutter, nichts von ihm
annehmen wollte – und Philipp, meinem brandneuen Stiefvater, der Amanda davon
überzeugt hatte, dass „Clarissa mit ihrer chronischen Schüchternheit es
dringend lernen muss, endlich mal auf eigenen Füßen zu stehen“ – und dass es
nebenbei doch auch durchaus von Vorteil wäre, mich aus dem Weg zu haben, um
dann die traute Zweisamkeit genießen zu können. So war sie schließlich über
ihren Schatten gesprungen und hatte Lous Angebot akzeptiert, mir ein Schuljahr
im Ausland zu finanzieren. Ich beugte mich der Gewalt und ging.
    Dass ich mich
dabei ausgerechnet für Schottland entschieden hatte, lag einzig und allein
daran, dass meine Entscheidung zu spät gefallen war. Alle sonnigen Ziele waren
längst ausgebucht. Nur das verregnete Schottland, das graue Ende der Welt,
hatte noch reichlich verfügbare Plätze. Mein elftes Schuljahr in Inverness
verbringen zu müssen, zu allem Überfluss auch noch der nördlichsten Stadt im
sowieso schon nördlichen Schottland, war so ziemlich das Schlimmste, was ich
mir vorstellen konnte. Denn mit einem immerhin hatte Philipp recht (auch wenn
ich ihm das niemals gesagt hätte) – ich war chronisch schüchtern, und
die Vorstellung, nun ein Jahr lang nicht nur unter völlig Fremden, sondern noch
dazu im Ausland verbringen zu müssen, war einfach entsetzlich.
    Als ich dann
auch noch erfuhr, dass meine Gast„familie“ lediglich aus Vater und Sohn
bestand, wäre ich am liebsten sofort ans Telefon gestürzt und hätte die ganze
Chose abgesagt. Ich allein in einem Zweimännerhaushalt? No way! Aber
Philipp, der sein junges Eheglück schwinden sah, ließ mir keine Chance. „Männer
sind auch Menschen“, behauptete er. Der reinste Hohn! Als ob nicht gerade er
das beste Gegenbeispiel war…
     
    Ein paar Tage
vor meinem Abflug hatte ich den beiden per Mail meinen Ankunftstag und die
ungefähre Ankunftszeit mitgeteilt. Mike, der Sohn, schrieb zurück, ich solle
einfach kommen, er sei auf jeden Fall zu Hause. Aufgrund der fortgeschrittenen
Zeit gönnte ich mir für die letzte Etappe ein Taxi, von denen zum Glück mehrere
auf dem Vorplatz des Busbahnhofs warteten.
    Wie sich
herausstellte, war es nicht allzu weit, denn schon nach ein paar Minuten hielt
der Fahrer vor einem eintönigen Reihenhaus mit grauem Mauerwerk, einem
bröckelnden Erker und einem verwelkten, kaum handtuchgroßen Vorgarten mit
kleiner Mauer. Viewlands Terrace. Klang sehr viel idyllischer, als es
aussah. Ich warf noch einmal einen prüfenden Blick auf die Hausnummer, dann
öffnete ich zögernd die Beifahrertür und folgte dem Taxifahrer zum Kofferraum,
aus dem er meine überdimensionale Tasche wuchtete. Sie enthielt alles, was ich
für ein Jahr aus Deutschland mitgebracht hatte – Klamotten, ein gutes Dutzend
Bücher und eine Kreditkarte mit großzügigem Limit von Lou. Zum ersten Mal in
meinem siebzehnjährigen Leben brauchte ich mir keine Gedanken über Geld zu
machen – eine ganz neue Erfahrung für mich. Bisher hatten Amanda und ich jeden
Cent umdrehen müssen. Nachdem ich den Taxifahrer bezahlt hatte, drehte ich mich
mit klopfendem Herzen um und stakste mit weichen Knien, die Tasche hinter mir
her schleifend, den kurzen Weg zur Haustür. Ich holte noch einmal tief Luft.
Dann drückte ich auf die Klingel.
    Nichts rührte
sich. Erst jetzt fiel mir auf, dass alle Fenster dunkel waren. Nirgendwo ein
Licht, das angezeigt hätte, dass jemand zu Hause war. Ich klingelte noch
einmal.
    Nichts. Leichte
Panik machte sich in mir breit. Da stand ich nun, allein, im Dunkeln, mit einem
Monstrum von Reisetasche, vor einer verschlossenen Haustür, in einer Stadt, die
ich nicht kannte, unter Menschen, deren Sprache ich kaum verstand. Das Taxi war
längst weitergefahren und weit
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