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Meuterei auf der Deutschland

Meuterei auf der Deutschland

Titel: Meuterei auf der Deutschland
Autoren: Klecha Walter Hensel
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Grundsatzprogramm orientierte man sich in weiten Teilen an der schwedischen Piratenpartei, fügte aber weitere Punkte hinzu.
    Die Gründung der Piraten geriet, anders als seinerzeit bei den Grünen, nicht zum Massenereignis, sondern die Partei schien von außen betrachtet eher eines jener skurrilen Projekte zu sein, die plötzlich entstehen und kurz darauf ebenso rasch wieder verschwinden. Während bei den Grünen am Beginn eine Bundesversammlung mit Hunderten Delegierten stand, die ihrerseits mehr oder minder konsolidierte Landesverbände repräsentierten, kamen bei den Piraten gerade einmal 52 Aktivisten zusammen. Ähnlich wie bei vergleichbaren Neuparteien verlief dann auch die Entwicklung der Piraten keineswegs stürmisch, wohl aber stetig. Neue Mitglieder rannten der Partei jedenfalls nicht gerade die Türen ein, bei den ersten Landtagswahlen in Hessen und Hamburg im Frühjahr 2008 erreichte man auch nur marginale 0,3 bzw. 0,2 Prozent. Bei den Landtagswahlen in Bayern und Niedersachsen scheiterten die jeweiligen Landesverbände gar schon bei der Sammlung von Unterstützerunterschriften. Die Piraten bewegten sich damals im politischen Niemandsland zwischen Familienpartei, der PARTEI und den Grauen. Zwar versuchten sie, sich mit Aktionen gegen die Vorratsdatenspeicherung oder den sogenannten Bun-destrojaner zu profilieren, sie ernteten damit jedoch kaum öffentliche Aufmerksamkeit und galten bestenfalls als krude Kleinstpartei mit bizarren Ansichten.
    Zum eigenartigen Bild der Partei trug auch die internetaffine Kerngruppe bei, die in den ersten 24 Monaten das Geschehen dominierte. Die Motivation dieser Mitglieder der ersten Stunde speiste sich aus dem Spezialinteresse an netzpolitischen und bürgerrechtlichen Fragestellungen, vor allem aber aus dem Spaß an der Sache, aus der Möglichkeit, mit den Mitteln des Internets Politik betreiben zu können. Angesichts dieses Personals und des Programms war es zunächst naheliegend, die Partei als »Ein-Themen-Partei« einzuordnen (Jesse 2011, S. 189; Bartels 2009, S. 219), die wenig mit den dominanten Debatten der deutschen Politik zu tun hatte. Freilich, man mag die Digitalisierung für ebenso bedeutend wie die Industrialisierung halten, eine Parallelisierung mit der Sozialdemokratie, die als Reaktion auf die Pauperisierung breiter Bevölkerungsgruppen im 19. Jahrhundert entstand, wäre aber wohl unzutreffend. Die Arbeiterbewegung vertrat schließlich eine klar identifizierbare (wenngleich in sich durchaus heterogene) Interessengruppe, die an der mit der neuen Produktionsweise einhergehenden Wohlstandsentwicklung zunächst nicht partizipierte. Eine vergleichbare, aus dem Digitalisierungsprozess hervorgegangene Klasse, die die Piratenpartei heute vertreten könnte, existiert bislang nicht, obwohl sich in der IT -Branche durchaus eine Berufsgruppe mit spezifischen Einstellungen, Lebensweisen und Interessen herausschält. Dennoch fehlte der Partei zunächst nicht nur eine zeitaktuelle Themenagenda, sondern auch die soziale Basis.
    Erst 2009 konnten die Piraten die mediale Aufmerksamkeitsschwelle mit ihren Themen überwinden. Ab Ende Mai 2009 erfuhr die Partei dann einen für eine Kleinstpartei furiosen Wachstumsschub, der ihre zweite Entwicklungsphase prägte. Auslöser war eine zeitlich günstige Kette wichtiger Ereignisse, die Anfang des Jahres angestoßen worden war. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen hatte ein Zugangserschwerungsgesetz ins Gespräch gebracht, das vorsah, mittels sogenannter Netzsperren den Zugriff auf Internetseiten mit kinderpornografischen Inhalten zu verhindern, indem das Bundeskriminalamt eine Liste erstellt und die Internetanbieter dann die darin aufgeführten Seiten sperren (Zolleis/Prokopf/Strauch 2010, S. 10).
    Gegen dieses Vorhaben formierte sich zunächst in einer überschaubar großen Fachöffentlichkeit scharfe Kritik, der sich auch die Piraten bald anschlossen. Man wandte sich ausdrücklich nicht gegen das Ziel der Bekämpfung der Kinderpornografie, äußerte allerdings Zweifel an der Effektivität und der verfassungsrechtlichen Legitimität des vorgeschlagenen Instruments (ebd. S. 8). Die technischen, kulturellen und bürgerrechtlichen Einwände kulminierten in einer plakativen Kampagne, die zugespitzt mit dem Kunstbegriff »Zensursula« operierte. Die Netzsperren wurden als plumper Angriff auf die im Internet gewachsene Lebenskultur angeprangert. Man erweckte den Eindruck, die Repräsentanten der etablierten Politik,
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