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Meuterei auf der Deutschland

Meuterei auf der Deutschland

Titel: Meuterei auf der Deutschland
Autoren: Klecha Walter Hensel
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etablierte wie die Linke im Westen erleiden Rückschläge. Ehemals hegemonial auftrumpfende Parteien wie die CDU in Baden-Württemberg werden von der Macht verdrängt, zur Erfolglosigkeit verdammte wie die CDU in Berlin übernehmen überraschend Regierungsverantwortung. Die Berechenbarkeit von ehedem ist passé. Wer angesichts grandioser Umfragewerte dann wie die Grünen oder die FDP von eigenen Kanzlerkandidaten träumt oder diese gar kürt, kann jäh aus seinen Blütenträumen gerissen werden.
    Tatsächlich wechseln parteipolitische Moden, verändern sich Wählerpräferenzen rekordverdächtig schnell. Möglicherweise spiegelt sich dabei in der Politik etwas, das wir auch in der Gesellschaft vielfältig erleben: Soziale Bindungen lockern sich, werden unverbindlich, variabel und individualisiert. Der Wähler wird im wahrsten Sinne des Wortes wählerisch und übernimmt im Politischen die täglich trainierte Rolle des Konsumenten, der ebenfalls nach Tagesgeschmack oder Wochenangebot entscheidet. Er will sich nicht vorschreiben lassen, welche sozialen Verpflichtungen er einzugehen hat. Anstatt Mitglied im Sportverein zu werden, in dem seit Generationen die ganze Familie aktiv ist, geht er ins Fitnessstudio. Statt sich von den Gewerkschaften oder dem Mieterschutzbund die Interessen vertreten zu lassen, schließt er eine Rechtschutzversicherung ab. Die kulturellen Präferenzen im Fernsehen, im Theater oder im Radio sind keineswegs mehr festgefügt. Es steht eine Vielfalt an medialen Angeboten zur Verfügung, unzählige Fernsehsender, Lifestyle-Magazine und das Internet haben den Medienkonsum radikal verändert.
    Zugleich entstehen neue Formen der Gemeinschaft: Die Fußballstadien sind am Wochenende so voll wie nie zuvor. Bei Welt- und Europameisterschaften ist das gemeinschaftliche Public Viewing weitverbreitet, obwohl man bequem im eigenen Wohnzimmer mit bester Sicht auf den Flachbildfernseher die Spiele verfolgen könnte. Die Sehnsucht nach Gemeinschaftlichkeit findetihren Ausdruck auch in medialen Großinszenierungen wie dem Eurovision Song Contest, der Jahr für Jahr ein Millionenpublikum vor die Mattscheibe und zu großen Partys lockt. Das neue Gemeinschaftsgefühl ist dabei keineswegs immer unpolitisch. An Online-Petitionen beteiligen sich Hunderttausende Bürger, Demonstrationen gegen randständig erscheinende Themen wie das Handelsabkommen ACTA erreichen ebenso beachtliche Teilnehmerzahlen wie die eigentlich längst totgesagte Friedensbewegung im Vorfeld des Irakkriegs.
    Allerdings vollzieht sich dieser Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit weniger in den tradierten Organisationsstrukturen, sondern in veränderter, flexibler und unverbindlicher Form. Nicht erst seit dem Arabischem Frühling wird über das politische Potenzial des Internets nachgedacht. Tatsächlich sind soziale Medien wie Facebook oder Informationsquellen wie Wikipedia aus dem Alltag vieler Menschen kaum mehr wegzudenken. Vor diesem Hintergrund ergibt sich im Hinblick auf die Piraten ganz zwangsläufig die Frage, ob ihre jüngsten Wahlerfolge wirklich nur eine Laune der Wähler waren oder ob es sich nicht doch um die Folge eines tiefgreifenden Wandels von Lebensformen und Mentalitäten handelt. Den gleichzeitigen Einzug in vier Landtage haben in den vergangenen 40 Jahren schließlich nur die derzeit im Bundestag vertretenen Parteien geschafft. Es könnte durchaus sein, dass wir tatsächlich das Entstehen einer neuen politischen Kraft erleben.
    Im Rahmen eines Forschungsprojekts vermessen wir gegenwärtig die Piratenpartei, untersuchen ihre Arbeitsweisen, vollziehen ihre programmatischen und strategischen Entscheidungen nach. Auf einen elaborierten Forschungsstand können wir uns dabei bislang noch nicht stützen, wohl aber auf umfangreiches empirisches Material. So greifen wir auf die umfassende Dokumentation der Partei selbst zurück. Ihre innerparteiliche Kommunikation legen die Piraten in Wikis, Foren, auf Mailinglisten, bei Twitter oder in Live-Streams zu einem großen Teil offen. Zudem beobachten wir Treffen und Parteitage und sprechen mit Vertretern der verschiedensten Ebenen. Aus all dem haben wir uns ein erstes Bild einer Partei angefertigt, das nach wie vor etwas amorph bleibt undeinige Paradoxien offenbart: Wir haben es mit einer Parteistruktur zu tun, die eigentlich nicht den Anforderungen gerecht wird, um sich im Parteispektrum zu etablieren. Aufbau und finanzielle Ausstattung entsprechen der Struktur einer Klein-, wenn nicht gar
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