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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen
Autoren: Amber Kizer
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mit dem Tod konfrontiert zu werden. Es gab nämlich Zeichen, die denen, die hinschauen wollten, verrieten, dass für den Körper bald der letzte Vorhang fallen würde.
    Ich fühlte mich in diesen Momenten stets unbeschreiblich ohnmächtig, weil ich nie wusste, was ich sagen und tun und wie ich helfen sollte. Also saß ich da und sprach mit ruhiger Stimme über Belanglosigkeiten. Ich feuchtete den Sterbenden die Lippen an, wusch ihnen das Gesicht und massierte ihnen die Lotion, die Nicole für mich eingeschmuggelt hatte, in die trockene Haut. Wenn ich hätte sterben müssen, hätte ich vermutlich am meisten eine einfache Berührung vermisst. Ich sehnte mich danach, liebevoll und ohne praktischen Grund angefasst zu werden. Im DG schien jede Berührung einer Tagesordnung zu folgen. Bis auf ein kurzes Mal vor drei Jahren, als ich mich wertgeschätzt gefühlt hatte.
    Ich zwang mich, in die Gegenwart zurückzukehren. Grübeln nützte niemandem etwas.
    Wenn ich zu lange stillsitzen musste, forderten die langen Tage und die kurzen Nächte unweigerlich ihren Tribut. Ich schreckte hoch. Mini hatte sich nicht bewegt, und ihre Wärme zu spüren entspannte mich wie immer bis ins Mark. Ich schüttelte mich und überlegte, was ich sagen sollte. In Situationen wie dieser schweiften meine Gedanken stets zu meinen ersten Lebensjahren und zu einer gesichtslosen Frau, die mir in den seltsamsten Momenten einfiel. Meine Mutter? Warum konnte ich mich nicht richtig an sie erinnern?
    Ich konnte meine Mutter weder respektieren noch lieben. Sie hatte mich nach der romantischsten aller literarischen Figuren benannt, Juliet, wie die Titelheldin von
Romeo und Julia
auf Englisch heißt. Das Dumme ist nur, dass Julia sich letztlich umbringt. Mir wollte nicht in den Kopf, was daran romantisch sein sollte
. Lebe für mich, stirb nicht. Lebe.
Aber so hatte die Leiterin es mir erklärt: Ich trug den Namen der toten Idiotin aus
Romeo und Julia.
Ausgesetzt vor einem Krankenhaus, mit einem Zettel in der Tasche.
    Mini jaulte und schnurrte. Ich riss die Augen auf, doch es erfüllte bereits ein leeres Schweigen den Raum. Mrs. Mahoney war gestorben, während ich … was? … taggeträumt hatte? Wie pietätlos.
    Dennoch: Sosehr ich mich auch bemühte, im kritischen Moment anwesend, wach und bei den Sterbenden zu sein, verpasste ich stets die Sekunde des Übergangs. Ich wusste nicht, warum, aber ich war machtlos dagegen. Ich versuchte es ja. Möglicherweise würde es aber beim Versuch bleiben.
    Mini sprang von meinem Schoß und versteckte sich unter dem Bett.
    »Auf Wiedersehen, Mrs. Mahoney. Schlafen Sie gut.« Ich stand auf. Die Knie gaben mir nach, als mir plötzlich schwindelig wurde. Ich schob die abgrundtiefe Erschöpfung beiseite, die mir den Verstand vernebelte. In Zukunft musste ich unbedingt früher ins Bett.
    »Hier hast du einen Traubensaft.« Nicole näherte sich von der dunklen Türschwelle. »Bodie hat mir von Minis Totenwache erzählt. Hast du heute eigentlich schon etwas gegessen?«
    Ich schüttelte den Kopf und stürzte den süßen violetten Billigsaft hinunter.
    Stirnrunzelnd schnalzte sie mit der Zunge. »Du musst auch selbst etwas essen. Nicht nur für uns andere kochen.« Nicole drehte sich zu Mrs. Mahoney um. »Hat sie uns verlassen?«
    Ich nickte, trank den Saft aus und strich die Decken glatt. Meine Hände konnten nicht ruhig bleiben. Wenigstens nicht lange.
    »Was gibt es heute zum Abendessen?«, fragte Nicole mit einem schiefen Grinsen, während sie mir einen Stuhl unter die zitternden Kniekehlen schob.
    Das war der Lieblingsspruch der Insassen, so makaber er auch sein mochte. Wenn ein Gast verstarb, kochte ich wie eine Wilde ein neues oder ein altes Rezept, einfach irgendetwas, um zur Ruhe zu kommen. Die anderen Kinder hatten aufgehört, das in Frage zu stellen, und fanden sich mit diesem Rhythmus ab. »Spritzgebäck. Bœuf Stroganoff.« Natürlich kochte ich heimlich, wenn wir allein gelassen wurden, damit die Heimleiterin nichts davon erfuhr. In letzter Zeit war sie häufiger als sonst unterwegs, was die Dinge sehr erleichterte. Allerdings schienen ihre Wut und Launenhaftigkeit inzwischen noch zugenommen zu haben, wenn sie im Haus war. Ich erschauderte.
    »Wenigstens können wir dir mit dem Geschirr helfen. Ich lebe in ständiger Angst, dass du etwas mit einem französischen Namen und exotischen Zutaten vorschlägst.« Nicole half mir bei der Beschaffung der Lebensmittel, die nicht zum üblichen Sortiment der Heimleiterin
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