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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen
Autoren: Amber Kizer
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liebevollen Ausdruck in den Augen nicht verbergen konnte, versuchte ich es gar nicht erst. Ich hätte nie damit gerechnet, dass Tens mich so einfach als seine Seelenverwandte bezeichnen würde. Verliebt zu sein war weiterhin sehr neu und frisch für mich und hatte noch nicht die Stufe erreicht, auf der ich mich entspannt hätte hineinfallen lassen und mich sicher und geborgen hätte fühlen können. Mein Problem hatte hauptsächlich den Grund, dass ich so viele Jahre mutterseelenallein und selbst in meiner eigenen Familie eine Außenseiterin gewesen war. Vom Tag meiner Geburt an waren todgeweihte Insekten in meine Wiege gekrochen, um dort zu sterben, und als ich älter wurde, wurden auch die Tiere größer. Das ging bis zu meinem sechzehnten Geburtstag so, als menschliche Seelen mich als ihr Fenster zum Jenseits erkannten. Meine Mutter wusste es, da die Gabe einer Fenestra vererbt wird, und zwar an Kinder, die am Tag der Wintersonnenwende um Punkt zwölf Uhr Mitternacht geboren werden. So wie ich. Allerdings hatte sie es meinem Dad nicht erzählt, sondern es einfach nicht wahrhaben wollen. Sie hatte versucht, meine Bestimmung durch Ignorieren zu verleugnen. Und so hielt Dad mich für eine Soziopathin, während ich glaubte, dass die Kinder, die mir schreckliche Schimpfwörter an den Kopf warfen, vermutlich recht hatten. Ein typischer Fall von Vorbelastung also. Und das hatte Tens sich aufgehalst. Deshalb fiel es mir schwer, darauf zu vertrauen, dass er – ganz unabhängig vom Schicksal – wirklich freiwillig mit mir zusammen war. Ich wollte keine arrangierte Ehe, sondern eine Liebesheirat. Und ich war nicht sicher, ob ich das verdient hatte.
    »Was ist?«, fragte er, den Mund voller Meeresfrüchtesalat.
    Ich hatte unter dem Tisch sein Knie berührt, in der Hoffnung, dass er in diesem Moment spüren würde, was in mir vorging. Manchmal ärgerte ich mich über den Eingriff in meine Privatsphäre, die seine Gabe mit sich brachte, doch manchmal reichten Worte eben nicht. Jeden Tag musste ich mich kneifen, weil ich nicht fassen konnte, wie ich, die ich vor kurzem noch so einsam gewesen war, mich in meinen Seelenverwandten, meinen Wächter, hatte verlieben können.
    Doch schon war der Augenblick verflogen. Tens hatte nichts bemerkt und stand auf. »Glaubst du, in diesem Laden gibt es ein Klo für kleine Jungs?«
    Ich zog die Augenbrauen hoch. »Da draußen ist der Wald.«
    »Ha-ha.« Während er ging, belauschte ich die Gespräche um mich herum.
    Ich hatte ganz vergessen, wie banaler Smalltalk klang und wie begeistert die Menschen sich damit beschäftigten. Die arme Lizzie. Ihr Mann betrog sie, und alle außer ihr wussten Bescheid. John hatte seine Stelle an einen jüngeren und billigeren Mitarbeiter verloren. Der neue Glaskünstler war ein Sonderling – entweder waren seine Arbeiten genial oder der letzte Schrott. Die Damen waren sich da uneins.
    Kurz schloss ich die Augen und wünschte, ich hätte ein Nickerchen halten können.
    Tens kehrte zurück. »Eine Toilette für Männlein und Weiblein gemeinsam sollte nicht rosa und geblümt sein. Die Kloschüssel hat ein Muster aus Rosen und Putten.«
    »Das Grauen!«, prustete ich.
    Wir gönnten uns einen ausgiebigen Nachtisch. Meine Obstpastete sah, verglichen mit seiner Auswahl verschiedener Teilchen, die fast einen ganzen Kuchen ergaben, ziemlich mickrig aus. Als der Nachmittag voranschritt, leerte sich der Gastraum, doch selbst in der untergehenden Sonne ließ das Leuchten der Glaskugeln nicht nach. Ich wartete darauf, dass jemand es bemerkte.
    Unsere Bedienung brachte die Rechnung, drei Seiten unleserliches Gekritzel.
Beehren Sie uns bald wieder,
stand neben der annehmbaren Endsumme.
    Nachdem ich ein großzügiges Trinkgeld unter mein Eisteeglas geschoben hatte, schlenderten wir zur Kasse. Eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust, diese angenehme Höhle zu verlassen.
    »Und wohin geht es jetzt?«, fragte Joi, während sie die Beträge in die Kasse eintippte.
    »Kennen Sie hier in der Gegend ein Motel? Vielleicht bleiben wir ja ein paar Tage«, antwortete ich.
    Tens zog zwar angesichts meiner Frage die Augenbraue hoch, widersprach aber nicht.
    Sie summte vor sich hin. »Suchen Sie auch Arbeit?«
    »Vielleicht«, erwiderte Tens und bezahlte in Scheinen zu fünf und einem Dollar. Dank meiner Tante hatten wir zwar genug Geld, aber vielleicht machten wir nicht diesen Eindruck.
    Joi nickte Tens zu. »Ich brauche jemanden, der mir in Haus und Garten zur Hand geht, und eine
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