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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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seine Sitzhaltung, trank und fuhr fort. »Die Familie meiner Ma wanderte während der großen Kartoffelfäule aus Irland aus. Ihre Mutter hatte Geschwister, Eltern und Ehemann verloren und hier, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, neu angefangen. In Chicago. Meine Eltern haben am Anfang des letzten Jahrhunderts geheiratet.« Er trank und betrachtete uns eine Weile. Aber als ich den Mund aufmachte, um ihn etwas zu fragen, achtete er nicht auf mich, sondern sprach weiter. »Wir stammen von einem Volk ab, das Geschichten als eine Methode sieht, die Energie und die Wirklichkeit zu beeinflussen. Meine Vorfahren maßen die Zeit in Generationen, nicht in Jahren. Mein Volk ist mit dem Tod vertraut, fürchtet sich nicht vor ihm und nimmt ihn an. Meine
Nain
und mein
Taid,
also meine Großeltern, liebten phantastische Geschichten.«
    Ich rutschte auf dem Stuhl herum und ließ seine Worte über mich hinwegbranden. Er sah nicht annähernd alt genug für die Daten aus, mit denen er um sich warf. Ich spürte, dass Tens hinter mir Anspannung ausstrahlte. Zwar nicht so stark, dass es einem Außenstehenden aufgefallen wäre, aber doch genug, dass ich bemerkte, was er empfand.
    Rumi traten die Tränen in die Augen. »Mein Dad war Bergarbeiter, Ma hat uns Kinder großgezogen. In den Fünfzigern ist mein Dad dann an einer Staublunge gestorben, aber Ma ist über neunzig geworden. Als wir Kinder waren, hat sie uns Geschichten über Feen, Meerjungfrauen, Selkies, das sind Meergeister, und von Schlachten zwischen Gut und Böse erzählt. Im Mittelalter wäre sie eine wundervolle Bardin gewesen. Die Ärzte sagen, dass sie am Schluss an Alzheimer litt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin da nicht so sicher. Sie hatte das, was man in der Medizin als halluzinatorische Wahnvorstellungen bezeichnet. Allerdings war sie nie unruhig oder ängstlich. Ihre Visionen haben ihr Freude und Trost gespendet. Mit der Zeit wurde ich ihr Schreiber, denn ihre Erzählungen waren etwas, woran ich mich in den Jahren nach ihrem Tod würde klammern können. Eines Tages war sie beim Aufwachen bei klarem Verstand, und ihre Augen hatten einen vernünftigen Ausdruck. Für kurze Zeit stand sie mit beiden Beinen fest in dieser Welt. Und sie packte meine Hand so kräftig wie ein junger Mann. Mach die Fenster auf, ich brauche Licht, meinte sie zu mir.«
    Mach die Fenster auf?
Ein Schauder lief mir den Rücken hinunter, so dass ich eine Gänsehaut bekam.
    Rumi fuhr fort. »Als ich das Fenster hochschob, fing sie an, ein Wiegenlied zu singen, das ich noch nie zuvor gehört hatte. Eine Woche lang waren die Bitten, das Fenster zu öffnen, die einzigen verständlichen Worte, die sie von sich gab. Und sobald ich es tat, beruhigte sie sich wieder. Nach ihrem Tod fand ich in einem Karton Papierrollen und Stücke von Zeichnungen und Gemälden, die offenbar aus Wales stammten. Außerdem ein kleines, mit Tinte vollgeschriebenes Buch aus Irland. Anscheinend hat sie die Sachen zusammengepackt, als Dad starb. Von meinen Brüdern und Schwestern hat keiner einen Hang zu dem, was man als komplizierte Erklärungen bezeichnen könnte. Sie brauchen ordentliche, glatte, technologisch sattelfeste Begründungen, um die Welt zu verstehen. Ich hingegen habe schon immer darüber hinausgeblickt. Ich bin gereist und habe auf jedem Kontinent gelebt und mit Schamanen und buddhistischen Mönchen neue Welten erkundet. Ich bin Omnist. Mit dem bloßen Auge können wir nicht viel erkennen. Ma sagte immer, ich sei noch von der alten Art.« Gedankenverloren hielt er inne.
    »Was hat das alles mit uns zu tun?«, fragte Tens, nachdem eine Weile Schweigen geherrscht hatte.
    Rumi lächelte. »Geduld, mein Freund«, tadelte er ihn. »Ich versuche gerade, mehrere Generationen in fünf Minuten zusammenzufassen.«
    Ich tastete hinter mir nach Tens’ Hand, in der Erwartung, dass er die Zurechtweisung krummnehmen würde. Doch er seufzte mit einem leisen Auflachen und stellte einen zweiten Efeurankenstuhl neben meinen. »Verzeihung.« Seine Entschuldigung klang aufrichtig.
    Rumi tat sie ab und fuhr fort. »Die Zeichnungen stellen Menschen dar, die durch Fenster klettern. Fenster, hinter denen sich eine Landschaft erstreckt. Außerdem winzige Aquarelle der Kugeln hier. Natürlich hatte ich von den englischen Hexenkugeln gehört.«
    Ich nicht. »Was ist das?«, erkundigte ich mich.
    »Der Legende nach ziehen die bunten Farben böse Geister an, die dann in der Kugel gefangen sind. Anderen Geschichten zufolge vertreiben

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