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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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wohnten weiter in dem aus zweiter Hand stammenden Koffer, mit dem ich angekommen war.
    Das Eisenbahnzimmer war für kleine Jungen eingerichtet. Der Zug mit den zwölf Waggons, der früher im Kreis herumgefahren war, stand nun als regloser Staubfänger da. Das Pferdezimmer mit seinem Wandgemälde, das hügelige Wiesen und mit ihren Müttern umhertollende Fohlen darstellte, erschien uns Elternlosen besonders grausam. Das Blaue Zimmer war als märchenhafte Unterwasserwelt hergerichtet. Und das Waldzimmer erinnerte mit seiner Flora und Fauna an einen Dschungel.
    Alle sechs Kinderzimmer waren offiziell einem Insassen zugeteilt, aber es war uns nicht gestattet, uns in einem davon häuslich einzurichten. Die Möblierung diente nur dem Zweck, einen guten Eindruck zu erwecken, damit Außenstehende dachten, dass wir anständig versorgt wurden und dass das DG sich an sämtliche gesetzliche Vorgaben hielt. Wir hatten vor langer Zeit – und häufig auf die harte Tour – gelernt, dass der erste Eindruck trügerisch sein konnte. In Wirklichkeit nämlich drängten sich die Kinder dicht an dicht in Schlafsäcken auf dem Speicher. Im Winter schmuggelten wir Heizdecken und Radiatoren ein, mit denen wir gegen Hausregel Nummer vier verstießen. Allerdings kam die Heimleiterin nie hier herauf, und nur wenige von uns reizte der Tod durch Erfrieren.
    Wenn Ms. Asura, unsere Sozialarbeiterin, uns besuchte, durften wir ihr nichts von den Zimmern und auch sonst nicht viel erzählen. Ms. Asura verlangte nie, den Speicher oder die Schlafzimmer zu sehen. Manchmal förderte sie ein offiziell wirkendes Formular zutage und warnte uns, wir müssten sicher sein, ob wir uns tatsächlich beschweren wollten. Ich wusste nicht, ob es je jemand getan hatte. Die Angst hatte eine bremsende und lähmende Wirkung, und schließlich waren wir hier gefangen.
    Wenn ich manchmal am Bett eines alten Menschen saß, fragte ich mich, ob sich einige der Gäste beim Anblick von Modelleisenbahnen, Stofftieren und anderen Symbolen der Unschuld wohl wieder in ihren Kinderzimmern wähnten. Die meisten alten Leute, die hierherkamen, waren nicht bei Bewusstsein, und da die Heimleiterin großzügig mit Medikamenten umging, verbrachte der Großteil von ihnen seine letzten Tage in einem berauschten Dämmerzustand.
    Von den Kindern, die derzeit im DG lebten, war ich die Älteste. Nach mir kam Nicole, die ein wenig jünger und vor einem Jahr eingetroffen war. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht, einen reinen, porzellanweißen Teint, ein markantes Kinn, gerade Brauen und rosige Pfirsichwangen. Ihre karamellbraunen Augen passten ausgezeichnet zu ihrem Haar. Außerdem war sie sehr zierlich und ein gutes Stück kleiner als ich, mit einem zart und zerbrechlich wirkenden Knochenbau. Trotzdem konnte sie das Doppelte meines Körpergewichts heben und arbeitete härter als alle anderen, um mir das Leben nach Möglichkeit zu erleichtern. Jeden Tag dankte ich dem Schicksal dafür, dass sie noch hier war.
    Bodie, mit knapp sieben der Jüngste, war seit Halloween hier und löste in mir Gefühle aus, als sei er mein kleiner Bruder, wenn schon nicht blutsverwandt, dann wenigstens im Herzen. Aber ich tat mein Bestes, mir nichts anmerken zu lassen, denn die Heimleiterin hätte uns beide bestraft, wenn wir einander öffentlich Zuneigung entgegengebracht hätten.
    Sema benahm sich wie der Schatten eines Mädchens. Sie sprach kaum und starrte meistens, in den Vorhang gewickelt und die Wange an die Scheibe gepresst, zum Fenster hinaus. Jeden Tag trug sie dieselben Sachen, eine mit Prinzessinnen bedruckte Tunika und Leggings. Sooft ich konnte, entführte ich die Kleider, um sie zu waschen. Nicole hatte versprochen, Sema Ersatz in einer größeren Größe zu beschaffen, da ihr Milchschokoladenbauch allmählich über das Taillenbündchen quoll. Sie war pummelig und gedrungen und duschte nur ungern. Damit sie wenigstens ab und zu mal nass wurde, hatte ich ihr im letzten Sommer das Schwimmen im Bach beigebracht, was ihr sogar Spaß zu machen schien.
    Im Januar schwappte uns für gewöhnlich eine große Welle neuer Kinder und alter Leute ins Haus. In diesem Jahr war es anders gewesen, denn nur wenige Insassen hatten gemeinsam das neue Jahr begonnen. Aber die Heimleiterin sah es gern, wenn alle Betten besetzt waren und wenn sich auf dem Speicher die Arbeitssklaven drängten. Deshalb wäre ich nicht überrascht gewesen, wenn sich unsere Anzahl bis zum Valentinstag verdreifacht oder vervierfacht

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