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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen
Autoren: Amber Kizer
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Zeug.«
    »Nein, sie war wirklich da«, sprudelte ich hervor. »Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit …« Tränen sorgten dafür, dass ich kein Wort mehr herausbrachte. Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit Perimo sich aufgelöst hatte, seit dem Brand, seit unserer Flucht in die Höhlen.
Seit
klang, als sei das alles schon sehr lange her.
    »Ganz ruhig.« Er fuhr mit den Fingern in meine inzwischen gewachsenen Locken, malte kleine Kreise auf meine Kopfhaut und zog mich fester an sich. »Diesmal scheint es schwieriger gewesen zu sein als sonst.«
    »Vielleicht.«
    »Meinst du, es liegt daran, dass deine Tante da war?«
    Ich schüttelte leicht den Kopf. Wenn ich das nur gewusst hätte.
    »Hat sie irgendwas gesagt?
Hallo, wie geht’s dir?
oder so?«
    »Ich konnte sie nicht verstehen. Ich habe versucht, es ihr von den Lippen abzulesen, doch es war offenbar eine fremde Sprache.« Ich befreite mich aus seinem Griff, denn ich fühlte mich plötzlich von seinen Armen beengt. Innerhalb weniger Atemzüge waren sie vom Paradies zum Gefängnis geworden.
    Er wartete einfach ab, so dass ich mich frei bewegen konnte.
    Der Schmerz in meiner Seite verwandelte sich in ein dumpfes Pochen. »Eine Frau war bei ihr. Noch ziemlich jung. Deformiert oder schwer verletzt.«
    »Wo?« Er strich sich über den Mund und beugte sich, die Ellbogen auf die Knie gestützt, vor.
    Stirnrunzelnd klopfte ich mit den Fingern an die Wangen. »Im Gesicht. Bis jetzt war noch nie jemand verletzt. Das ist wirklich komisch.«
    »Was? Dass deine Tante da war oder das mit der Frau?«
    »Beides. Die Menschen auf der anderen Seite sind normalerweise sie selbst, nur noch mehr als das. Verbesserte, perfektionierte Versionen ihrer Person. Ganz gleich, wie ihre Körper bei ihrem Tod ausgesehen haben, im Jenseits ist mit ihnen stets alles in Ordnung.«
    »Was meinst du mit
mehr als das?
«
    Wir hatten noch nie darüber gesprochen, was daran liegen mochte, dass es mir bis jetzt nicht aufgefallen war. Ich hatte nicht darauf geachtet. Schließlich dauerten meine Reisen zum Fenster nur Sekundenbruchteile. Nach meiner Rückkehr erinnerte ich mich nur verschwommen daran wie an einen Traum, der noch am Rand des Bewusstseins verharrt.
    »Meridian, was meinst du mit
mehr als das?
« Tens holte mich mit seiner Frage wieder in die Gegenwart zurück.
    »Als ob sie zeitlos wären. Zwar eindeutig sie selbst, aber verändert. Sie sind in dem Alter, in dem der Mensch, den ich begleite, sie erkennt, doch ich habe das Gefühl, dass das nicht ihr wahres Alter ist.«
    »Okay.« Er verstand mich offenbar nicht.
    Ich tat, als hätte ich es nicht bemerkt, weil ich den roten Faden nicht verlieren wollte.
    »Noch nie war jemand dort verletzt.«
    »Und diese Frau schon?«
    »Sie flackerte wie der Schatten einer Kerze. Und sie hat sich schwer auf meine Tante gestützt. Als ob sie allein nicht hätte stehen können.«
    Er nickte. »Aha. Deine Tante hätte gegen Ende nicht einmal eine Mücke stützen können.«
    »Richtig. Und vorhin auf der Straße war sie wie immer, alt und genau so, wie ich sie in Erinnerung habe. Und trotzdem so völlig anders. Fröhlicher, stärker, kühner.«
    »Warum zeigt sie dir jemanden, der nicht besser aussieht, wenn es bei allen anderen der Fall ist?«
    »Vielleicht wollte sie mir etwas mitteilen. Ich muss in ein Krankenhaus.«
    Tens sprang auf. »Ist dir schlecht? Ich dachte, das hätte sich gelegt. Was brauchst du? Medikamente? Ginger Ale?«
    Tens war daran gewöhnt, dass ich dem Tod nahe war, nachdem ich einer Seele durch das Fenster geholfen hatte. Ich wusste, er würde eine Weile brauchen, um zu begreifen, dass die Gefahr gebannt war, seit meine Tante gestorben und ich sie zum Fenster begleitet hatte. Ohne negative Folgen für mich. Glaubte ich wenigstens.
    »Nein, nein, nein, ich muss jemanden finden, der bereit ist. Ich muss noch mal mit Tante Merry sprechen.«
    Tens schnaubte. »Das ist zu riskant. Du kannst nicht selbst auf die Toten zugehen.«
    »Sterbende, nicht Tote. Außerdem ist es meine kosmische Pflicht. Es gehört zum Programm.« Ich lächelte ihn an. Dass er sich in dieser Hinsicht Sorgen machte, fand ich niedlich und gleichzeitig überraschend. Schließlich sollte er mich vor den Aternocti beschützen, nicht vor meinen Aufgaben. Wir wussten beide nicht viel über seine Bestimmung als Wächter, weshalb es ein Drahtseilakt war, wann ich ihm Grenzen setzen und wann ich ihm erlauben musste, sich einzumischen. Schließlich wollte ich kein hilfloses
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