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Melvin, mein Hund und die russischen Gurken

Melvin, mein Hund und die russischen Gurken

Titel: Melvin, mein Hund und die russischen Gurken
Autoren: Marlene Roeder
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Schneckenglas.
    Wusstest du, dass die Indianer früher dachten, dass der Fotograf ihnen ein Stückchen ihrer Seele stiehlt? Die Seele auf Papier gebannt, komisch, dass mir das gerade jetzt einfällt. Vielleicht sollte ich das Album verbrennen, um dich zu befreien. Aber so gestellt die Fotos auch sind, sie verraten trotzdem einiges über dich: du an Fasching, in einem Kleid aus Kunstseide und mit einem Krönchen auf dem Kopf. Du auf einem Brunnenrand balancierend, die Arme ausgestreckt. Du, wie du beim Tanzen dein Haar zurückwirfst – und die magnetisierten Blicke der beiden Jungs daneben. Wir beide, Wange an Wange, per Selbstauslöser.
    Hundertmal du. Mit Pickeln und mit kurzen Haaren am Anfang, später dann mit langem Haar in unterschiedlichen Tönungen. Nur Schwarz stand dir nicht.
    Auf den Fotos ist auch zu sehen, wie du über die Jahre immer schmaler wurdest, schwandest. Viel deutlicher ist das da zu sehen. Auf den letzten Bildern bist du schon fast durchsichtig. Am Badesee.
    Die anderen waren schwimmen gegangen, aber du wolltest nicht. Wir saßen unten am Strand und sahen zu, wie in der Ferne ein Sommergewitter heraufzog. Du hattest dich in deinen Schlabberpulli verkrochen, ihn über die Knie gezogen. Doch selbst darunter konnte ich erkennen, wie dünn du geworden warst. Die Handgelenke mit den vielen Armbändern – wie die Knöchelchen eines Vogels.
    Es erschreckte mich so, dass ich fragen musste, ob alles in Ordnung ist. »Ja klar«, hast du geantwortet. »Du weißt doch, die Schule. Der Stress. Kein Grund, gleich Sorgenfalten zu kriegen, Süße.« Selbst da hattest du es noch, dein funkelndes Lächeln. Das Einzige, was auf allen Fotos gleich ist. Das Lächeln war dein Versteck. Ich wollte ihm glauben, weil es alles einfacher machte. Erst später habe ich verstanden, dass du dich in dir nie zu Hause gefühlt hast.
    Ich betrachte das Foto. Das einzige echte Foto, das ich von dir habe. Es ist schon ganz zerknittert, siehst du, weil ich es immer bei mir trage.
    Dein Gesicht darauf ist nass vom Regen, der plötzlich losbrach, an diesem Tag am See. Wir rannten in den Wald, um uns unterzustellen. Ich hörte das Lachen und Kreischen der anderen zwischen den Bäumen. Dann dein Japsen hinter mir: »Warte, warte doch mal, Frauke!« Ich blieb stehen, drehte mich zu dir um, sah dich an einem Baum lehnen. Die Hände auf die Knie gestützt, keuchtest du: »Scheiß-Kondition.«
    Die moosige grüne Stille, nur durchbrochen vom Fallen der Tropfen und deinem Atem, der sich langsam wieder beruhigte. Plötzlich hast du gerufen: »Hey, guck mal, lauter Schnecken!«
    Tatsächlich. Sie waren überall. Auf dem Weg, den Bäumen ringsum. Kleine, große. Ihre Fühler dem Regen entgegenstreckend.
    Die Begeisterung in deiner Stimme verblüffte mich. Mir fielen auf Anhieb zehn Tiere ein, die besser zu dir gepasst hätten. »Sag bloß, du magst Schnecken!«, rief ich. »Die sind doch so klein und hässlich.«
    Du hast sofort widersprochen: »Quatsch, schau sie dir doch mal an! Schnecken sind toll! Die tragen ihr Zuhause immer mit sich, wohin sie auch gehen. Ist doch total praktisch.«
    Ich lachte, du lachtest auch, machtest einen Schritt auf mich zu. In diesem Moment sah ich dich erstarren, in die Hocke sinken.
    Ich fragte, was denn los sei.
    »Ich bin auf sie draufgetreten«, hast du geflüstert. »Auf die Schnecke. Ich hab sie kaputt gemacht.« Dein Gesicht war nass. Dein Lächeln, deine Maske weggeschwemmt.
    Es war dieser eine echte Augenblick. Ich habe es damals gespürt. Das war der Augenblick, in dem ich das Foto schoss.
    Klick.
    Hinterher habe ich mich entschuldigt.
    Ich finde, das Bild sagt viel über uns aus. Du, über eine obdachlose Schnecke trauernd. Ich, die auf den Auslöser drückte, statt zu dir zu gehen und dich in den Arm zu nehmen. In diesem Bild steckt schon alles, was wir nun sind.
    Heute kann ich nur noch deinen Stein fotografieren, der immer gleich bleibt, ob bei Regen oder Sonne. Glatt und kühl ist er unter meiner Hand.
    Klick.
    Ich werde das Foto in mein Album kleben. Nein, ich werde die hundert falschen Fotos nicht verbrennen, das wäre zu leicht.
    Stattdessen stecke ich das Album wieder in meine Tasche und hole das Marmeladenglas mit den Schnecken heraus. Ich habe sie selbst gesammelt, sie sind mein Geschenk für dich. Ein Strauß Schnecken ist doch mal was anderes, oder?
    Ich setze sie auf deinen Stein. Weinbergschnecken, Schnecken mit gelb geringelten Häusern. Langsam strecken sie ihre Fühler hervor und
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