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Melvin, mein Hund und die russischen Gurken

Melvin, mein Hund und die russischen Gurken

Titel: Melvin, mein Hund und die russischen Gurken
Autoren: Marlene Roeder
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Sie blinzelt, bis Gleis 1 zwischen ihren Wimpern verschwimmt. Wie gerne wäre sie jetzt woanders, in einer Stadt, die sie nicht kennt.
    Endlich fährt die S-Bahn weiter. Ein paar Leute sind zugestiegen, auch eine Frau um die vierzig. Sie trägt normale Kleidung, aber dann holt sie ein Klemmbrett aus der Tasche und sagt: »Fahrgastbefragung.« Drinnen Neonlicht, draußen Schwärze.
    Josefine ist eine Schwarzfahrerin.
    Normalerweise erkennt sie Kontrolleure schon aus zwanzig Metern Entfernung und verdrückt sich rechtzeitig. Aber heute war sie wohl abgelenkt, wegen der Sache mit Stefan.
    Stefan gehört zu den Leuten, die immer ein Ticket haben und auch sonst alles richtig machen.
    In der spiegelnden Scheibe beobachtet Josefine, wie die Frau in ihre Richtung läuft. Neben ihrem Sitz bleibt sie stehen. Josefine muss wohl oder übel zu ihr aufschauen.
    »Hallo. Kann ich dir ein paar Fragen stellen?«
    Josefine nickt so halb und starrt auf die polierten Schuhe der Frau.
    Die zückt ihren Stift. »Alter?«
    »Sechzehn«, murmelt Josefine.
    »Wo bist du eingestiegen?«
    Da, wo Stefan wohnt. Josefine wünscht sich dorthin zurück, ihren Kopf zurück in Stefans Schoß. Sie haben Musik gehört und Gummibärchen gegessen. Vor einer Stunde war noch alles okay.
    »Rosenstraße«, antwortet Josefine.
    Die Frau kritzelt etwas auf ihr Klemmbrett. »Und wo willst du hin?«, fragt sie, ohne den Blick zu heben.
    Wo will man hin, wenn man mit der S-Bahn im Kreis fährt? Die Frage ist wohl eher, wo man nicht hinwill.
    Das ungeduldige Klicken des Kulis reißt Josefine aus den Gedanken. »Wo willst du aussteigen?«
    »Keine Ahnung«, stammelt Josefine. »Ich … ich mach das manchmal gerne, einfach so rumfahren.« Warum hat sie nicht irgendeine blöde Haltestelle genannt? Aber da ist der Satz schon raus. Die Frau sagt »Aha« und mustert Josefine abschätzig.
    Josefine ist gerade ziemlich neben der Spur. Aber das ist doch noch lange kein Grund, sie so anzusehen. Schließlich hat es genau so angefangen mit Stefan und ihr. Mit dem Rumfahren.
    Manchmal hat Josefine keinen Bock auf ihre Mutter, keinen Bock auf zu Hause. Dann fährt sie rum und schaut raus auf ihre Stadt. Oder sie guckt sich die Leute in der S-Bahn an und malt sich aus, wie diese Leute wohl leben.
    So war es auch an dem Tag, an dem sie Stefan zum ersten Mal traf.
    Da wusste Josefine natürlich noch nicht, dass er Stefan heißt, da war er nur irgend so ein Typ für sie, der sich auf den Sitz gegenüber fallen ließ. Ungefähr in ihrem Alter, obwohl das nicht leicht zu erkennen war, weil er die Kapuze seines Pullis tief ins Gesicht gezogen hatte. Außerdem hielt er irgendwas in der Hand. Josefine versuchte zu erkennen, was es war. Vielleicht eine Handtasche, die er einer Omi entrissen hatte …
    »Willst du eins?«, fragte der Typ, der vielleicht ein Handtaschenräuber war.
    »Was?«, fragte sie.
    »Ob du ein Gummibärchen willst. Weil du dauernd auf die Packung starrst, dachte ich …«
    »Oh. ’tschuldigung … Darf ich wirklich?«
    »Klar. Welche Farbe?«
    »Egal, Hauptsache kein Rotes.«
    »Die meisten mögen die Roten am liebsten.«
    »Mir schmecken die nicht. Ich wette, die Leute nehmen sie nur wegen der Farbe. Rot wie rote Rosen, wie Liebe … Das ganze Herz-Schmerz-Zeug. Nee, danke. Ich bin kuriert von roten Gummibärchen.«
    So haben Josefine und Stefan sich kennengelernt. Sie haben die Gummibärchenfrage ausdiskutiert, und nachdem sie zweimal im Kreis gefahren waren, haben sie Handynummern ausgetauscht. Danach haben sie sich noch oft getroffen, nicht nur in der S-Bahn. Aber jetzt …
    Josefine merkt plötzlich, dass ihr etwas das Gesicht runterläuft, und dreht sich zum Fenster. Die Frau mit dem Klemmbrett starrt sie an, das spürt sie. Kann die nicht endlich abhauen?
    Sie wünscht sich eine Stunde zurück, ihren Kopf wieder in Stefans Schoß, seine streichelnden Finger in ihrem kurzen, stacheligen Haar.
    »Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir uns kennengelernt haben?«, hat er gefragt. »Ich musste eigentlich zum Basketballtraining. Aber als die Haltestelle kam, bin ich einfach weitergefahren.«
    »Warum das denn?«, hat sie gefragt und sich im nächsten Moment gewünscht, sie könnte die Worte wieder zurück in ihren Mund stopfen und sie könnten einfach liegen bleiben und Musik hören.
    Doch es war zu spät, Stefan nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste Josefine auf den Mund. Er schmeckte nach roten Gummibärchen und jeder Menge Herz-Schmerz-Zeug.
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