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Melvin, mein Hund und die russischen Gurken

Melvin, mein Hund und die russischen Gurken

Titel: Melvin, mein Hund und die russischen Gurken
Autoren: Marlene Roeder
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wegen Prügeleien von der Realschule geflogen. Er ist zweimal knapp an einer Anzeige wegen Körperverletzung vorbeigeschrammt.
    Ich weiß das alles, so theoretisch, und jetzt weißt du’s auch. Aber praktisch und live zu sehen, wie dein ältester Freund einen Typ so fertigmacht, ist etwas anderes. Wir sind wie erstarrt. Jurij ist zu Boden gegangen, er versucht seinen Kopf mit den Händen zu schützen. Aber Melvin schlägt weiter auf ihn ein, im Gesicht diese ruhige Konzentration, mit der er sich stundenlang seine geliebten Tierdokus reinziehen kann. Völlig versunken. Plötzlich wird mir klar: Er hört nicht auf, er wird nicht aufhören, egal was das bedeutet. Der Einzige, der ihn vielleicht stoppen kann, bin ich.
    »Melvin! MELVIN, HÖR AUF!!!« Ich schüttele ihn und endlich löst sich Melvins Blick vom Gesicht seines Gegners und wandert zu mir. Ich ziehe Melvin von Jurij weg, der blutet wie die Sau und daliegt wie eine Stoffpuppe. Heilige Scheiße.
    Ich bin darauf gefasst, dass die Russen uns jetzt voll plattmachen. Aber die starren uns nur an. Valeria starrt uns an, als wären wir beide Monster. Dann lässt sie sich neben Jurij auf die Knie fallen und flüstert etwas auf Russisch. Vielleicht sind es auch gar keine Worte, vielleicht ist es nur Weinen. Sie sieht aus, als würde sie Jurijs Kopf gerne auf ihren Schoß ziehen, hat aber Angst, ihm damit wehzutun.
    Selbst wenn Valeria keinen Freund hätte, würde sie nie wieder mit mir Gurken essen, geschweige denn mir ihr Katzenaugenlächeln schenken. So viel ist klar.
    Ich drehe mich weg, dann packe ich Melvin und Iro und wir verschwinden. Niemand hält uns auf.
    Wir gehen zu mir. Mein Vater ist nicht da, er hat Spätschicht. Im Flur lässt sich Melvin auf die Knie fallen und betastet Iros Rippen, um zu sehen, ob sie der Tritt verletzt hat. Er will nach der Schule Tierpfleger werden. Die Hündin winselt leise und leckt seine Hände. Melvin vergräbt sein Gesicht in ihrem Fell.
    »Scheiße, Melvin, ich dachte schon, du bringst ihn um«, sage ich zu seinem Rücken. Er antwortet nicht. Als er wieder aufschaut, sagt er nur: »Können wir fernsehen? Ich brauch das jetzt.«
    Also setzen wir uns ins Wohnzimmer und gucken Tierdokus. Eine nach der anderen. Und während ich spüre, wie sich neben mir Melvins Körper langsam entspannt, jagen meine Gedanken im Kreis. Valerias Blick. Jurijs zerschlagenes Gesicht. Bestimmt haben sie einen Krankenwagen gerufen. Bestimmt wird er wieder gesund. Aber was, wenn nicht? Was, wenn es wieder passiert? »Der Melvin, der ist total durchgeknallt, gefährlich ist der …« Ich hab das nie geglaubt. Ich kenn ihn doch seit immer. In der Grundschule waren wir beste Freunde. Aber was ich heute gesehen habe …
    Melvin ist inzwischen auf dem Sofa eingeschlafen, die Hand im Fell meines Hundes vergraben, als bräuchte er was zum Festhalten. Ich decke ihn mit einer Wolldecke zu. Aus irgendeinem Grund muss ich daran denken, wie Valeria mir erzählt hat, dass Erdbeeren eigentlich keine Obstsorte sind, sondern Nüsse. Obwohl sie gar nicht so aussehen.
    Ich frage mich plötzlich, ob ich überhaupt weiß, was für eine Sorte Mensch Melvin ist.
    Iro ist wach und sieht mit dunklen Augen zu mir auf. Ihr Blick wirkt vorwurfsvoll, als wollte sie sagen: was für eine Sorte Mensch – ein Freund! Vorhin hat er nur versucht, uns zu beschützen, mich zu beschützen. Tiere waren einfach immer mehr sein Ding als Menschen. Wie kannst du auch nur einen Moment darüber nachdenken?
    Ich denke nämlich darüber nach, ob ich die Polizei anrufen soll.
    Jetzt ist es raus. Das ist auch der Grund, warum ich dir die ganze Story erzählt habe über Melvin, meinen Hund und die russischen Gurken. Weil ich keine Ahnung habe, was ich jetzt tun soll.
    Also frag ich dich: Was soll ich tun? Was soll ich jetzt nur tun?

SCHWARZFAHREN FÜR ANFÄNGER
    Die gelben Halteschlaufen der S-Bahn schwingen hin und her. An manchen Schlaufen hängen Menschen und halten sich fest. Josefine sieht aus dem Fenster: Draußen ist finsterste Nacht.
    Sie hat gesagt: Ich ruf dich an. Dann die ausgetretenen Treppen runter, zweiter Stock, erster Stock, Erdgeschoss, raus. Kein Blick hoch zu seinem Fenster. Vorbei am Bäcker, bei dem er neulich Brötchen geholt hat, Stefans Eltern waren nicht da, und der Honig ist aufs Bettlaken getropft. Die Rosenstraße lang, dann rechts. Der Eingang zum S-Bahnhof, Stufen hoch, Gleis 1, die nächstbeste S-Bahn.
    Jetzt ist Josefine wieder dort, denn die S-Bahn fährt im Kreis.
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