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Melville

Melville

Titel: Melville
Autoren: Natalie Elter
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Versuchungen widerstehen muss,
wenn ich schnell und erfolgreich durch mein Lernpensum schreiten
möchte. Aber besonders in einem Kurs fällt mir dieser Vorsatz
extrem schwer. Ein Mädchen, siebzehn oder vielleicht achtzehn Jahre
alt, sitzt direkt vor mir. Ihr Haar ist lang und sehr gepflegt. Immer
wieder weht mir der Duft ihres Shampoos entgegen, wenn sie
gedankenverloren ihr Haar zurückstreicht. Besonders, wenn sie es
ganz auf eine Seite legt und ich dann ihren freien Nacken betrachten
kann, bin ich nicht mehr in der Lage dem Unterricht effektiv zu
folgen. Immer wieder muss ich dann auch an die Sekretärin meines
Vaters denken, wie sie damals vor mir stand, die Schamesröte im
Gesicht, die blanken Brüste. Und nicht selten muss ich am Ende des
Unterrichts möglichst schnell, aber unauffällig auf mein Zimmer
hechten, um mich von diesem inneren Aufruhr zu erlösen. Meist liege
ich dann da und der anfängliche Höhenflug meiner Emotionen weicht
dem Gefühl der Verzweiflung und der Scham.
    Niemals
würde es mir einfallen, eines dieser begehrten Geschöpfe
anzusprechen, ich genieße still aus der Ferne und akzeptiere meine
passive Rolle. Diese verliebten Spielereien sind nicht für mich
gedacht.

    Mit
Bravur durchstehe ich die Collegezeit und schaffe es schließlich,
genauso wie mein Bruder, an die renommierte Universität von Bristol.
Ich erfahre hier schnell, dass Jonathan einen weniger rühmlichen Ruf
aufgebaut hat. Er ist den Partys, den Frauen, dem Alkohol und auch
den Drogen näher als dem trockenen Lernstoff. Wir sehen uns so gut
wie nie auf dem Universitätsgelände, räumlich nah, könnten wir
doch nicht weiter voneinander entfernt sein.
    Schnell
weiß ich genau, welche Richtung ich einschlagen möchte und lege mir
bereits im ersten Jahr viele Kurse in meinen Stundenplan. Der Master
‚Finance and Investment‘ sollte sich so in verkürzter Zeit
erwerben lassen.
    Zwei
ungleiche Brüder, der eine beliebt und auf jeder Gästeliste
eingetragen, der andere stumm und zurückhaltend. Doch ich weiß,
meine Entsagungen werden sich auszahlen.

    In
den Osterferien vor meinen Abschlussprüfungen, ersuche ich meinen
Vater schließlich um ein offizielles Gespräch. Deutlich vernehme
ich seine Verwunderung am Telefon, als ich ihn um einen Termin in
seiner Firma bitte. Ich nehme meine Bewerbungsunterlagen mit, ganz
als wäre ich kein Teil dieser Familie. Denn objektiv betrachtet, bin
ich der Bessere für diese Aufgabe. Und das versuche ich meinem Vater
auch zu beweisen.
    Ich
trete in sein Firmenbüro und reiche ihm die Hand.
    „Ich
weiß zwar noch nicht ganz was das bringen soll, Melville, aber was
liegt dir auf dem Herzen?”.
    „Ich
bin hier, um über unsere Firma zu sprechen, Vater.”.
    „Unsere
Firma?”.
    „Ja.
Ich bin mir bewusst, dass du als Nachfolger sicher an Jonathan
denkst, aber ich fürchte, damit triffst du eine schlechte Wahl. Er
konzentriert sich nicht wirklich auf sein Studium und mit seinem
Verständnis für Planung und Struktur wird er es nicht schaffen, die
Firma weiter aufzubauen. Eher im Gegenteil.”. Mit wächsernem
Gesichtsausdruck sitze ich vor ihm, ich fühle immer eine aufkeimende
Angst, wenn ich mit ihm spreche, aber um meiner selbst willen, muss
ich jetzt standhaft sein.
    „Bist
du nur gekommen, um deinen Bruder schlecht zu machen, Melville?”.
    „Nein,
ich wollte dir nur aufzeigen, dass auch ich Interesse an der Führung
der Firma habe. Ich habe ausgezeichnete Noten, Vater, und ich möchte
meine Fähigkeiten ganz zum Wohle der Familie Lancaster einbringen.
Ich bitte dich um die Chance, mich, anstelle von Jonathan, in die
Firma zu holen. Du sagtest einmal, dass du nur ein abgeschlossenes
Studium voraussetzt. Nun, ich werde wie Jonathan in diesem Jahr
meinen Abschluss machen. Wenn er denn seinen überhaupt schafft.”.
Seine Augen werden groß, es war ihm wohl nicht bewusst, wie sehr ich
Jonathan bereits eingeholt habe.
    „Dieses
Jahr schon? Ihr seid doch...”, er überlegt kurz.
    „...an
die drei Jahre auseinander. Wie kann das sein?”. Ich lächle ihn
siegessicher an und antworte
    „Er
ist langsam und ich bin schnell. Siehst du jetzt, dass ich es
verdient habe, diese wichtige Aufgabe zu übernehmen?”.
    Er
räuspert sich leise und faltet seine großen Hände auf dem
Schreibtisch. Kurz erinnere ich mich an die Schmerzen, die mir diese
Hände in meinem Leben schon zugefügt haben und ich rutsche einmal
unsicher auf meinem Stuhl hin und her.
    „Melville,
es gehört mehr zu einer
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