Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Melville

Melville

Titel: Melville
Autoren: Natalie Elter
Vom Netzwerk:
in mein Zimmer. Ich schlage meine Tür zu, werfe
mich in mein Bett und verstecke mich unter der Bettdecke.
    Ich
brauche eine Weile, um wieder normal atmen zu können, ohne zu
Schluchzen und zu Schniefen. Ich halte die Decke ganz fest in meinen
Armen und spüre wie die Luft unter der Decke langsam unerträglich
wird. Ich strecke meinen Kopf etwas hervor und da erst sehe ich den
kleinen handgeschriebenen Zettel von Jonathan auf meinem Nachttisch.
Ich greife nach ihm und es dauert seine Zeit, bis ich die Bedeutung
der Worte verstehe. Es fällt mir schwer, mich in der Schule auf die
Aufgaben und Übungen zu konzentrieren. Und besonders das Lesen und
Schreiben erfordert viel Disziplin von mir. Oft musste ich mir schon
anhören, dass Vater mich für dumm hält und viele Nachhilfestunden
habe ich schon den Sommer über aussitzen müssen.

    Bin
mit Vater angeln. Er will der Familie heute Abend selbstgefangenen
Barsch anbieten. Er meint, du bist noch zu jung. Sind vor 14 Uhr
zurück. Alles Gute zum Geburtstag.
    Jonathan

    Ganz
langsam lasse ich den Zettel sinken und spüre, wie ich ihn mit der
rechten Hand zusammenknülle. Sie
haben mich nicht mitgenommen. Ich bin ganz allein.
    Es
tut so weh, dass ich mir nicht anders zu helfen weiß, als das kleine
Zettelknäuel in den Mund zu stecken und herunterzuschlucken.
Dann ist er wenigstens weg.
    Langsam
gehe ich zu meinem Schreibtisch, nehme mir ein Blatt Papier und fange
an mir meine eigene Nachricht zu schreiben. Ich male eine großes
buntes Geschenk in die Mitte und mehrmals kontrolliere ich meine
Rechtschreibung, während ich über und unter das Geschenk schreibe
‘Für Melville. Hab dich lieb.’. Ich setze mich auf dem Stuhl
zurück und betrachte mein Werk. Ich bin zufrieden. Ich falte den
kleinen Zettel und packe ihn ganz vorsichtig in meine Schultasche.
    Dann
ziehe ich meinen zerrissenen Mantel und die Hausschuhe aus, lege mich
wieder in das Bett und kneife die Augen zusammen. Langsam zähle ich
innerlich bis zwanzig. Dann öffne ich die Augen wieder, richte mich
ganz vorsichtig auf und tue so, als müsste ich gähnen und mich
strecken. Bedächtig hebe ich die Beine über das Bett, versuche ein
möglichst zufriedenes Gesicht aufzulegen und schiebe meine Füße
wieder in die noch warmen Hausschuhe.
    „Alles
Gute zum Geburtstag, Melville.”, sage ich zu mir selbst.
    „Ich
habe ein Geschenk für dich versteckt. Komm, suche es!”.
    Ich
gehe zum Kleiderschrank, zum Schreibtisch, zur Spielzeugkiste und
durchsuche gewissenhaft die möglichen Verstecke. Ich umkreise
langsam meinen Schulranzen und gaukle mir selber eine spannende Suche
vor.
    Irgendwann
greife ich dann in die Tasche und hole den Zettel hervor. Ganz
langsam falte ich ihn auf.
    „Das
habe ich mir schon immer gewünscht. Danke, Melville.”.
    Dann
nehme ich den Zettel, lege mich zurück in das Bett und halte ihn
fest umklammert, während sich langsam wieder ein paar kleine Tränen
den Weg durch meine Lider kämpfen. Der Morgen meines neunten
Geburtstages. Ich fühlte mich noch nie so einsam.

    Die
meisten Gäste treffen pünktlich ein und brav lasse ich mich von
meinen Onkeln, Tanten und Großeltern in die Wange kneifen und mir
über den Kopf fahren. In meinem besten Anzug und geputzten
Lackschuhen, freue ich mich über die Aufmerksamkeit. Doch kaum haben
sie mich begrüßt, ihr Geschenk auf dem Gabentisch geparkt, meist
Schulbücher oder Kleidung, und den gedeckten Kuchentisch entdeckt,
vergessen sie weswegen sie hier sind. Es ist immer dasselbe. Die
Erwachsenen widmen sich den Gesprächen über Politik und Sport und
die Kinder haben sich allein zu beschäftigen, aber nicht zu stören.
Ein paar Neffen und Nichten sind da, aber Jonathan ist derjenige, der
sich gut mit ihnen versteht. Ich bin von ihrer offenen und teils
aggressiven Art eher verängstigt. Ich habe keine Lust ‘Ritter’
oder ‘Räuber und Gendarm’ zu spielen und auch nicht
‘Vater-Mutter-Kind’. Ein Spiel, das ich grundlegend eh nicht
verstehe. Was ist lustig daran, eine Familie zu spielen?
    Also
gehe ich, gelangweilt von den anderen Kindern, zu den Erwachsenen und
gönne mir auch ein leckeres Stück Kuchen und einen heißen Kakao.
Vorsichtig balanciere ich den Teller und die Porzellantasse auf ihrem
Unterteller in meinen Händen und gehe zum bereitgestellten
Kindertisch. Leider bemerke ich die kleine umgeschlagene Ecke des
Teppichs nicht. Ich stolpere und versuche noch den überschwappenden
Kakao nicht auf den teuren Teppich tropfen zu lassen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher