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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Rose Tremain
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durch die Wälder zu reiten und im fallenden Schnee die Witterung eines Keilers aufzunehmen. »Ihr werdet sehen«, sagt Jens Ingemann zu Peter Claire, »daß er völlig verzückt und ausgehungert zurückkommt und uns dann auffordert, ihm beim Essen vorzuspielen. Er glaubt, daß bestimmte Musikstücke beim Verdauen helfen.«
    Sie befinden sich im Vinterstue , dem dunklen Raum, wo am Abend zuvor die Lampe angezündet worden war. Im Tageslicht sieht Peter Claire nun, daß das, was er an den Wänden für schlichte Holztäfelung hielt, in Wirklichkeit goldgerahmte Ölgemälde mit Waldszenen und Meeresansichten sind und daß die Decke mit prunkvollem, gold und blau bemaltem Stuck verziert ist. In einer Ecke des Raums stehen mehrere Notenständer.
    »Nun«, meint Jens Ingemann, »hier spielen wir manchmal. Das sind dann gute Tage, doch sie sind selten. Seht Euch im Zimmer um und sagt mir, ob Euch darin nicht etwas Ungewöhnliches auffällt.«
    Peter Claire bemerkt einen schönen, mit dem königlichen Wappen geschmückten Marmorkamin, die silbernen Löwen, die er schon bei seiner Ankunft gesehen hat, einen Thron, dessen Polster mit dunkelrotem Brokat bezogen sind, zwei Eichentische, mehrere Stühle und Schemel, eine Reihe Bronzebüsten, ein paar schwere Kerzenständer und ein Schiffsmodell aus Elfenbein.
    »Nun?« fragt Jens. »Nichts Unerwartetes?«
    »Nein …«
    »Also gut! Gehen wir weiter! Folgt mir!«
    Sie gehen in die Halle hinaus und wenden sich nach links in einen Steingang. Gleich darauf öffnet Jens Ingemann eine schwere, eisenbeschlagene Tür. Peter Claires Blick fällt auf Stufen, die in einer engen Kurve nach unten führen.
    »Es ist dunkel auf der Treppe«, sagt Jens. »Paßt auf, daß Ihr nicht stolpert!«
    Die Treppe verläuft um eine mächtige Steinsäule herum und endet in einem niedrigen Tunnel. Jens Ingemann eilt ihn entlang, auf ein fernes, flackerndes Licht zu. Als sie aus dem Tunnel kommen, findet sich Peter Claire in einem großen Kellergewölbe wieder, das von zwei an die Wände genagelten Eisenleuchtern erhellt wird. Es riecht nach Harz und Wein, und nun kann man auch Hunderte von Fässern sehen, die wie Miniaturschiffe im Trockendock auf gebogten Holzstützen liegen.
    Jens Ingemann geht langsam weiter, seine Schritte hallen auf dem Steinboden leicht wider. Dann dreht er sich um und deutet auf ein freies Stück zwischen den aufgereihten Fässern. »Da wären wir!« sagt er. »Hier ist es!«
    »Der Weinkeller!«
    »Ja. Es gibt hier Wein. Und in einem Käfig dort drüben ein paar arme Hennen, die noch nie die Sonne oder etwas Grünes gesehen haben. Merkt Ihr, wie kalt es ist?«
    »Nichts Ungewöhnliches für einen Keller!«
    »Ihr werdet Euch daran gewöhnen? Wollt Ihr das damit sagen?«
    »Mich daran gewöhnen?«
    »Ja.«
    »Nun, ich glaube nicht, daß ich hier unten viel Zeit verbringen werde. Ich bin nicht gerade ein Kenner von …«
    »Die ganze Zeit!«
    »Verzeiht, Herr Ingemann …«
    »Natürlich hat Euch Seine Majestät das nicht gesagt! Niemand hat es Euch gesagt, weil Ihr sonst vielleicht nicht gekommen wärt. Das hier ist unsere Wirkungsstätte. Hier spielen wir – abgesehen von ein paar kostbaren Tagen, an denen wir ins Vinterstue hochgerufen werden.«
    Peter Claire schaut Jens Ingemann ungläubig an. »Was für einen Sinn ergibt ein Orchester im Keller? Niemand kann uns hören!«
    »Oh«, meint Ingemann, »es ist genial. Es soll nichts dergleichen sonstwo in Europa geben. Ich habe Euch gefragt, ob Ihr im Vinterstue nicht etwas Ungewöhnliches seht. Habt Ihr nicht die beiden am Boden befestigten Eisenringe bemerkt?«
    »Nein.«
    »Ich weiß jetzt nicht, ob die Seile daran befestigt waren. Wahrscheinlich nicht, sonst wären sie Euch aufgefallen. Nun, seht Ihr, wir sind direkt unter dem Vinterstue. Nicht weit vom Thron entfernt kann man mit Hilfe der Seile ein Stück Boden anheben und wieder absenken. Unter dieser Falltür ist ein Gitter, und wiederum darunter sind einige Messingrohre angebracht, die in dieses Kellergewölbe hier führen. Diese Rohre sind fast selbst Musikinstrumente. Sie haben so ausgeklügelte Kurven und Verengungen, daß die Klänge, die wir hier unten erzeugen, unverzerrt nach oben gelangen. Die Gäste des Königs rätseln dann immer, woher die Musik kommt und ob auf Rosenborg Musiker früherer Zeiten herumgeistern.«
    Jens Ingemann ist beim Sprechen weitergegangen, doch Peter Claire ist stehengeblieben und schaut sich um. Er erkennt, daß die Leuchter nicht die
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