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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Rose Tremain
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ohne aber sein Deutsch oder Französisch vergessen zu haben. Er schien ein erstaunliches Gedächtnis für alles auf Erden zu haben.
    Sie reisten hauptsächlich aus zwei Gründen: Zum einen wollte der König die Zölle und Abgaben in den Lehen und Städten der Krone im Guten eintreiben, zum anderen wollte er sich dort frei bewegen und die Handels- und Werkstätten besuchen, um sicherzustellen, daß alle ordentliche Arbeit leisteten und Waren guter Qualität lieferten. Er sagte zu seinem Sohn: »Es gibt da etwas, was wir in Dänemark ausmerzen müssen, wenn wir stolz sein und mit der ganzen Welt Handel treiben wollen. Und das ist Schludrigkeit.«
    Anfangs verstand der Knabe nicht den Sinn dieses Wortes, doch dann wurde er ihm von seiner Mutter erklärt: »Wenn du feststellst«, sagte sie, »daß die Schnallen deiner Schuhe verschieden groß sind, obwohl sie eigentlich gleich groß sein sollten, schließt du daraus, daß derjenige, der sie angefertigt hat, ein nachlässiger Handwerker ist. Und das nennen wir ›Schludrigkeit‹. Man kann es dir dann nicht übelnehmen, wenn du dir die Schnallen von den Schuhen reißt oder die Schuhe sogar ganz wegwirfst. Wir brauchen hier Vollkommenheit, weißt du. In allem, was wir herstellen, und in allem, was wir tun, stehen wir mit Frankreich, den Niederlanden und England im Wettstreit. Wenn du dereinst König bist, mußt du in allem Schludrigen eine Beleidigung unseres Namens sehen und die Schuldigen bestrafen. Verstehst du das?«
    Christian sagte, er verstehe dies, und schon bald glaubte er, seine Eltern hätten ihm das erklärt, weil ihm selbst dabei eine wichtige Aufgabe zufiel. Denn immer wenn er nun mit seinem Vater in eine Werkstatt kam, sei es in die eines Handschuhmachers, Schusters, Brauers, Steinhauers, Zimmermanns oder Kerzenmachers, stellte er fest, daß er gerade die richtige Größe hatte, um über die Werkbänke zu blicken und so die zur Ansicht ausgelegten Gegenstände aus nächster Nähe und von der Seite zu besichtigen – eine Perspektive, die nur er hatte. Alle anderen nahmen sie von oben wahr, er jedoch befand sich auf gleicher Höhe. Er betrachtete sie, und sie sahen ihn an. Und sein Auge, das eines Zeichners, war so scharf wie eine neugeprägte Münze: ständig richtete es aus, paßte an und maß. Es entdeckte die kleinsten Fehler: die losen Fäden eines Seidenballens; den verlaufenen Rand eines Emailpokals; die ungleichmäßigen Beschläge eines Lederkoffers; den nicht genau passenden Deckel einer Kiste. Und dann rief er, völlig unbeeindruckt vom Unbehagen im Gesicht des Handwerkers oder Händlers, seinen Vater, den König, zu sich, machte ihn auf die Unvollkommenheit, die niemand außer ihm bemerkt hatte, aufmerksam und flüsterte feierlich: »Schludrigkeit, Papa!«
    Eines Tages besuchte die königliche Gesellschaft in Odense einen Knopfmacher, den der König schon von klein auf kannte. Der alte Mann begrüßte den jungen Prinzen überschwenglich und voller Zuneigung und legte ihm sofort einen Sack Knöpfe in die Hände. Es waren Knöpfe aus Silber und Gold, Glas, Zinn, Knochen und Schildpatt, es gab welche aus Eisen, Messing, Kupfer, Leder, Elfenbein und Perlmutt. Christian war ganz hingerissen von diesem Geschenk. Seine Hand hineinzutauchen und die vielen Knöpfe durch die Finger gleiten und purzeln zu lassen erweckte in ihm ein bebendes Gefühl ungetrübter Freude.
    Als er in jener Nacht zu seiner Unterkunft in Odense zurückgekehrt war, zu Abend gegessen hatte und sich nun allein in seinem Zimmer befand, stellte er eine Lampe auf den Boden und schüttete den Inhalt des Knopfsacks im Lichtkegel aus. Die Knöpfe glitzerten und glänzten. Er bückte sich und schob sie langsam mit den Fingerspitzen hin und her. Dann kniete er vor ihnen nieder und legte sein Gesicht hinein, so daß er ihre kalten, glatten Oberflächen an der Wange fühlte. Es war das schönste Geschenk, das er je bekommen hatte.
    Erst am nächsten Morgen erinnerte sich Christian wieder an den heiligen Befehl des Königs, was Schludrigkeit anging. So breitete er nun im kalten, weißen Licht des in Odense heraufdämmernden Oktobertags die Knöpfe in einem weiten Bogen auf dem Boden aus, drehte geduldig jeden einzelnen um, der nicht mit der Vorderseite nach oben lag, und machte sich daran, sie zu überprüfen.
    Er war erschüttert. Auf jeden perfekten Knopf – der einen glatten Rand hatte, gleichmäßig poliert war, weder einen Sprung noch eine Kerbe aufwies und symmetrische Knopflöcher
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