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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Rose Tremain
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Haarsträhne, seine heilige lange Locke, zwischen Zeigefinger und Daumen, wenn er aufgeregt sei; dieses Streicheln seines eigenen Haars beruhige und besänftige ihn. Es scheint jedoch niemand zu wissen, ob das stimmt, und falls es stimmt, wem er es gestanden hat. Vielleicht Kirsten. Oder Kirsten hat es erfunden.
    Er fing sehr früh zu sprechen an, allerdings auf deutsch. Er hatte eine so laute Stimme, daß man sein Schreien noch zwei oder drei Räume weiter hören konnte. So wurde bald beschlossen, den Tagestrompeter zu entlassen, da man ihn nicht mehr benötigte. Der Nachttrompeter blieb. Herzogin Elisabeth fürchtete die Macht der Träume. Sie meinte, wenn man ein Kind nach einem Alptraum nicht tröstete, könnte es mit der Zeit nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden und würde allmählich melancholisch.
    Der Nachttrompeter bekam ein neues Instrument und neue Verhaltensmaßregeln. Er sollte, wenn Prinz Christian im Dunkeln schrie, nicht nur in die Trompete stoßen, sondern ein munteres Lied spielen, um die Ängste des Kindes zu vertreiben.
    Auch das, heißt es, hat Christian niemals vergessen. Manchmal werden die Musiker um drei oder vier Uhr morgens aus ihren Betten über den Ställen geholt und zum Schlafzimmer des Königs zitiert, um dort Quadrillen und Capriccios zu spielen.
    Mit drei Jahren wurde Christian, der mittlerweile ohne Unterlaß Deutsch sprach, das mit ein paar Brocken Französisch vermengt war, die er bei seinen Besuchen in der Wäscherei in Güstrow aufgefangen hatte, wo ihn die französischen Wäscherinnen in ihre heißen, dicken Arme genommen und ihm schmatzende Küsse auf die Wangen gegeben hatten, seinen Eltern König Frederik und Königin Sofie in Frederiksborg zurückgebracht. Erst jetzt sah er, daß auch seine Mutter lange, blonde Haare hatte.
    Damit er nicht ununterbrochen redete, bekam er rote und schwarze Kreiden und wurde angehalten, die Dinge seiner Umgebung zu malen: Hunde und Katzen, Holzsoldaten, Statuen, Modellschiffe, Kaminbestecke, Brunnen, Wasserlilien, Bäume und Fische. Er beherrschte dies sehr schnell, und so wurde dem großen Plauderrepertoire dieser kleinen Person noch ein weiteres Gesprächsthema hinzugefügt: seine Bilder. Niemand durfte sich diesem entziehen. Wenn hohe Herrschaften zu Besuch waren, mußten sie sich viele Blätter mit scharlachroten Soldaten und kohlrabenschwarzen Bäumen ansehen und sich dazu äußern. So wurde der König von Frankreich während eines prunkvollen Staatsbesuchs zu seiner Belustigung (in seiner Sprache) mit den Worten angesprochen: »Das ist ein Bild von Nils, meinem Kater. Finden Euer Majestät, daß er gut getroffen ist?«
    »Nun«, antwortete König Ludwig, »wo ist der Kater? Hol ihn, damit ich es beurteilen kann.«
    Doch der Kater Nils war nirgends aufzufinden. Die Diener riefen ihn stundenlang von den Toren aus und überall in den Gemüsegärten, doch er tauchte nicht auf. Dann spürte Seine Majestät, der König von Frankreich, plötzlich, wie ihn jemand am bestickten Ärmel zupfte. Neben ihm stand im Nachthemd Prinz Christian, im Arm seinen Kater, der ein blaues Satinband um den Hals trug. »Hier ist Nils!« verkündete der Knabe triumphierend.
    »Ach ja, doch nun fehlt mir leider dein Bild!« sagte König Ludwig.
    »Das braucht Ihr nicht!« antwortete der kleine Prinz. »Könige erinnern sich an alles. Das sagt mein Vater immer.«
    »O ja, nur zu wahr!« erwiderte König Ludwig. »Ich hatte vergessen, daß wir uns an alles erinnern, doch jetzt erinnere ich mich wieder daran. Na, dann wollen wir doch mal sehen …« Er nahm dem Knaben Nils aus der Hand, legte ihn zwischen einer Obstschale und einem Weinkrug auf den Tisch und streichelte ihn, während die versammelten hohen Damen und Herren nachsichtig lächelten.
    »Ich meine«, sagte der König von Frankreich, »daß du ihn hübsch und genau getroffen hast, bis auf eins!«
    »Bis auf was?« fragte der Knabe.
    »Dein Bild schnurrt nicht!«
    Die Gäste der Abendgesellschaft lachten laut über diesen Scherz.
    In jener Nacht ging dem Prinzen Christian die Bemerkung des Königs von Frankreich nicht aus dem Kopf. Da er allein war, öffnete er seine Zimmertür und fragte den Trompeter, ob er wisse, wie man ein Bild male, das Töne von sich gebe.
    »Habt Ihr geträumt, Euer Hoheit?« fragte der junge Mann besorgt. »Soll ich eine Gigue spielen?«

    Im Alter von sechs Jahren begann Christian, mit dem König und der Königin im Land herumzureisen.
    Er sprach jetzt Dänisch,
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