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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Rose Tremain
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Die Seele wird, wo immer sie landet, von der umgebenden Materie geschluckt und bleibt für immer an diesem Ort. Fällt sie in die Falten einer Decke, verharrt sie dort, so daß es damals sehr viele Kinder gab, die ganz ohne Seele aufwuchsen. Wenn sie dem Kind auf den Magen sinkt, läßt sie sich da nieder, so daß das Kind für immer und ewig von dem Gedanken besessen ist, das Fleisch seiner hungrigen Seele ernähren zu müssen, und so fettleibig wird, daß es schließlich zum Herztod führt. Am schlimmsten sei es, sagten die Frauen, wenn die Seele auf die Genitalien eines kleinen Knaben falle. Denn dann wird das Kind ein teuflisch lüsterner Mann, der eines Tages seine Frau, seine Kinder und alle anderen, die ihm hätten teuer sein sollen, betrügt, nur um die Sehnsucht seiner Seele nach Beischlaf zu befriedigen. Derart ruchlos verhält er sich im Laufe seines Lebens gegenüber mehr als tausend Frauen und Knaben, ja sogar gegenüber seinen eigenen Töchtern oder den bemitleidenswerten Tieren im Haus und auf dem Feld.
    Königin Sofie wußte, daß sie es nicht zulassen durfte, daß die Seele ihres Sohnes vom Teufel gestohlen wurde. Nachdem sie mit dem Kind über den See gerudert und es gewaschen und in die Wiege gelegt worden war (die blutbefleckte gestrickte Unterhose hatte sie rasch ins Feuer geworfen), habe sie angeordnet, das Zimmerfenster trotz des herrlichen Aprilmorgens zu schließen und so zu verriegeln, daß es Tag und Nacht nicht geöffnet werden konnte. Die Amme habe eingewandt, der kleine Prinz werde ersticken, doch die Königin habe sich nicht erweichen lassen. So sei dieses eine Fenster im Schloß die sechs Wochen bis zur Taufe des Kindes am 2 . Juni in der Frue Kirke geschlossen geblieben.

    Manchmal geht der König zu dem Zimmer, in dem er als Kind lag, und blickt auf dieses Fenster oder den dunklen Nachthimmel dahinter, und da er sich im Besitz seiner Seele weiß, dankt er Gott, daß der Teufel nicht hereinkonnte, um sie zu stehlen.

    Ebenso wird berichtet, daß König Frederik II . und Königin Sofie zu jener Zeit auch den großen Astronomen Tycho Brahe kommen ließen, ihm ihren Sohn und Erben Christian vorstellten und darum baten, Vorhersagen für das Leben des künftigen Königs zu treffen. Tycho Brahe befragte die Sterne. Er fand Jupiter im Aszendenten und sagte dem König und der Königin, der Knabe werde ein fruchtbares Leben führen und auf der ganzen Welt zu Ehren und Würden kommen. Er warnte nur vor einem: Im Jahr 1630 , dem Jahr nach Christians zweiundfünfzigstem Geburtstag, werde es Probleme und Gefahren geben.

DIE FALLTÜR
    Es schneit auf Rosenborg. Zuerst fiel der Schnee in Nordjütland, und nun trägt ihn der eisige Wind in Richtung Süden.
    Peter Claire wacht in seinem harten Bett auf und erinnert sich, daß er in Dänemark ist und seinen ersten Tag im Königlichen Orchester vor sich hat. Er hat nur drei Stunden geschlafen, und die Bangigkeit, die seine Ankunft begleitete, scheint bei Anbruch des neuen Tages kaum geringer geworden zu sein. Er steht auf und blickt aus dem Fenster in den Hof, wo der Schnee allmählich die Kopfsteine bedeckt. Böig und stiebend fallen die Flocken, und er fragt sich, wie lange der dänische Winter in diesem Jahr wohl dauern wird.
    Heißes Wasser wird gebracht. Er rasiert sich und wäscht sich den Schmutz der Seereise von der Haut – angetrockneten Schweiß, Salz, Teerflecken und öligen Dreck. Er zittert dabei, weil es in dem Raum über den Ställen sehr kalt ist. Dann zieht er saubere Kleider und schwarze Lederstiefel aus der irischen Stadt Corcaigh an. Er kämmt sich das blonde Haar und steckt sich den juwelenbesetzten Ring ins Ohr.
    Den Musikern wird in einem Speisesaal heiße Milch und warmes Zimtbrot serviert. Die dort bereits anwesenden Männer, die sich die Hände an ihren Milchschalen wärmen, drehen sich bei Peter Claires Eintreten um und mustern ihn: Es sind acht oder neun unterschiedlichen Alters, die meisten jedoch älter als er, und alle tragen sie dezente Anzüge aus schwarzem oder braunem Stoff. Er verneigt sich vor ihnen, und als er seinen Namen nennt, erhebt sich ein älterer Mann mit einer weißen Haartolle, der etwas abseits von den anderen sitzt, und kommt auf ihn zu. »Herr Claire«, sagt er, »ich bin Jens Ingemann, der Musikmeister. Seid willkommen auf Rosenborg! Hier, trinkt Eure Milch, und dann zeige ich Euch die Räume, in denen wir spielen!«

    Der König ist auf der Jagd. Es gehört zu Seiner Majestät größten Freuden,
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