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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Rose Tremain
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ihnen daher düsterste Alpträume verursachten. Den gestrickten Strumpf fürchteten sie sogar noch mehr, weil sie in ihm ein Instrument ihrer eigenen Schwächung sahen. Sie stellten sich vor, wie ihre Füße anschwollen und die Beinmuskeln allmählich verkümmerten.
    Königin Sofie hatte von Anfang an gegen das Strickverbot verstoßen. Das Garn wurde ihr per Schiff aus England in Kisten mit der Aufschrift »Gänsedaunen« geschickt. Hinter ihrem Ebenholzschrank versteckte sie zahlreiche weiche Kleidungsstücke in vielen Farben, für die sie, wie sie wußte, eines Tages Verwendung finden würde. Nur ihre Zofe Elizabeth kannte ihr Geheimnis, und dieser hatte sie gesagt, sie müsse es mit dem Leben bezahlen, wenn es je gelüftet würde.
    Am Morgen des 12 . April 1577 , einem Tag mit blasser Sonne und zartblauem Himmel, machte sich die seit achteinhalb Monaten mit ihrem dritten Kind schwangere Königin Sofie um neun Uhr mit Elizabeth auf den Weg über den See, um zu stricken. Ihr Platz war eine Waldlichtung mit ein paar schattenspendenden Haselnußsträuchern und Heckenrosen, wo sie Kissen ins moosige Gras legte. Hier saß sie und strickte die letzten Maschen einer Unterhose, während Elizabeth an einer Socke arbeitete und die zwischen ihnen liegenden Garnrollen immer kleiner wurden, als die Königin plötzlich quälenden Durst verspürte. Da sie außer einer Holzkiste mit dem geheimen Strickzeug nichts mitgebracht hatten, bat Königin Sofie Elizabeth, zum Schloß zurückzurudern und einen Krug Bier zu holen.
    Während die Zofe weg war, setzten bei der Königin die Wehen ein – ein Schmerz, der ihr seit den Geburten ihrer beiden Töchter so vertraut war, daß sie ihm kaum Beachtung schenkte, weil sie wußte, daß es noch lange dauern würde. Sie strickte weiter. Sie hielt die Unterhose ans Licht, um festzustellen, ob Maschen gefallen waren. Der Schmerz kam wieder, und diesmal war er so heftig, daß Sofie das Strickzeug beiseite legte und sich auf den Kissen ausstreckte. Noch immer dachte sie, bis zur Geburt viele Stunden vor sich zu haben, doch Christian – so heißt es in der alten Geschichte – wußte schon, bevor er auf die Welt kam, daß ihn Dänemark brauchte, daß das Königreich abdriftete, weil es auf Gedeih und Verderb den Polarwinden und dem Haß der Schweden auf der anderen Seite des Kattegats ausgeliefert war, und daß nur er genügend Schiffe bauen konnte, um es fest zu verankern und zu beschützen. Daher versuchte er mit ganzer Kraft, so schnell wie möglich das Licht der Welt zu erblicken. Er strampelte und plagte sich in den Gewässern seiner Mutter und machte sich dann kopfüber auf den Weg zu dem engen Kanal, der ihn in die klare, nach Meer schmeckende Luft hinausführen würde.
    Als Elizabeth mit dem Krug Bier zurückkam, war er schon auf der Welt. Königin Sofie hatte die Nabelschnur mit einem Dorn durchtrennt und den kleinen Jungen in ihr Strickzeug gewickelt.

    Die Geschichte geht noch weiter. Keiner kann sagen, was wahr ist, was hinzugefügt oder weggelassen wurde. Nur die Königinwitwe Sofie weiß es, ist es doch ihre Geschichte. Sie gehört nicht zu den Frauen, die verschenken, was ihnen gehört.
    Es wird erzählt, die zu jener Zeit in Dänemark geborenen Kinder seien der Gefahr des Teufels ausgesetzt gewesen. Dieser sei von den unerbittlichen Lutheranern aus den Kirchen vertrieben worden und versuche sich nun in ungetauften Seelen einzunisten. So fliegt er nachts auf der Suche nach Muttermilch schnüffelnd durch die dichtbesiedelten Städte. Findet er welche, huscht er unbemerkt durchs Fenster ins Zimmer des Säuglings und versteckt sich in der Dunkelheit unter der Wiege, bis die Amme eingeschlafen ist. Dann streckt er seinen langen, dünnen Arm aus und verschafft sich mit seinen fadenförmigen Fingern durch die kleinen Nasenlöcher Zugang zum Gehirn des Kindes, in dessen Innern wie das Schuppenblatt eines Kiefernzapfens die Seele liegt. Diese nimmt er zwischen Zeigefinger und Daumen, zieht unendlich vorsichtig seine vom Eindringen ins lebende Organ schlüpfrige Hand zurück, und wenn er die Seele herausgezogen hat, steckt er sie sich in den Mund und saugt sie aus, bis er von einem Schauder der Ekstase und Freude gepackt wird, der ihn für mehrere Minuten erschöpft.
    Gelegentlich wird er dabei gestört. Manchmal wacht die Amme auf, schnuppert, macht eine Lampe an und tritt gerade in dem Augenblick an die Wiege, wenn die Seele herauskommt. Dann muß der Teufel sie fallen lassen und fliehen.
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