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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Rose Tremain
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mitleiderregend ich das finde! Ich habe mir vorgenommen, ihm zu sagen, daß Emilia unfähig ist, jemanden außer ihrer toten Mutter zu lieben, doch schon das ist mir zuviel.
    Daher fasse ich schließlich einen Entschluß. Ich lasse den Lautenspieler ziehen.
    Soll er doch selbst herausfinden, wie sehr Liebe versklavt! Soll er doch selbst sehen, was es bedeutet, für alle Ewigkeit an einen anderen gebunden zu sein, ohne daß es ein Entrinnen gibt – es sei denn durch Täuschung und Lügen. Soll er doch entdecken, was die Ehe ist und daß sie ein an den Fuß geketteter Stein sein kann (einen Fuß, den man einst bewunderte, weil er sich in einem so sanften Bogen über den Satinschuh schwang, der nun aber am Knöchel dick wird und blutet, weil die Ketten scheuern und einschneiden), der einen im Laufe der Zeit immer tiefer hinunterzieht in die eiskalte Dunkelheit.

    Der berühmte Koffer des Musikers trifft schließlich ein, doch ich mache mir nicht einmal die Mühe, ihn zu plündern, um zu sehen, was für Papiere er enthält. Ich erteile lediglich einem der Bediensteten den Auftrag, frische Kleidung und einen Mantel herauszunehmen, alles Mr. Claire zu überreichen und ihm zu sagen, er sei frei.
    Dann befehle ich, ihm ein Pferd zu geben. (Allerdings gehe ich nicht so weit, ihm einen Wagen zur Verfügung zu stellen, so daß er möglichst viele Besitztümer auf den Widerrist seines Pferdes häufen und sich glücklich preisen muß.)
    Er ist wirklich sehr dünn geworden, so daß seine Kleidung an ihm herumschlottert. Er hat einen Verband um den Kopf, um den Bausch auf seinem eiternden Ohr an Ort und Stelle zu halten. Ich gebe zu, daß er einen traurigen Anblick abgibt, so daß ich schließlich doch glaube, daß mich mein gutes Herz zu dem Entschluß brachte, Peter Claires Elend ein Ende zu bereiten und ihm den Weg zu dem zu weisen, was sein Herz begehrt, und nicht böse oder rachsüchtige Gefühle in mir beim Thema Ehe.

    Er ist schon fast am Ende der Einfahrt, als ich die Eingangstür von Boller öffne und hinter seinem Pferd herrenne. Mein Haar löst sich aus der Nadel und wogt mir ums Gesicht, so daß ich fast blind im Wind laufe. Ich greife in die Zügel und bringe das Pferd zum Stehen. Als ich nach dem Laufen wieder Luft bekomme, sage ich: »Sie ist nicht weggegangen, Mr. Claire! Sie ist im Haus ihres Vaters. Reitet Richtung Osten durch die Wälder dort drüben, und Ihr werdet sie finden.«
    Er sieht mich recht dumm an, als könne er mir nicht glauben. Ich kann ihm das nicht einmal übelnehmen, da ich ihm so viele Unwahrheiten erzählt habe. Daher lächle ich ihn an und füge hinzu: »Ich wollte eigentlich mit Euch weiterspielen – bis zum bitteren Ende. Doch nun ist mir einfach nicht mehr danach zumute. Also Gott mit Euch, Peter Claire, und sagt Emilia, daß ich die bemalten Eier trotz allem nicht weggeworfen habe!«

DIE STIMME, DIE MAN NICHT HÖREN KANN
    Emilia besitzt jetzt ein Fläschchen Gift, das so weiß wie Schnee ist. Da sie nicht in der Lage war, dem Apotheker soviel zu zahlen, wie dieser verlangte, hat sie ihm statt dessen den einzigen wertvollen Gegenstand gegeben, den sie besaß: die stehengebliebene Uhr. Der Apotheker – so an das Arbeiten mit seinen Waagen und Gewichten gewöhnt – hielt die Uhr in den Händen, als könne man den Wert aller Dinge einzig und allein vom Gewicht ablesen. Dann zog er sie auf und schüttelte sie, und durch dieses Schütteln begann sie zu ticken und bewegten sich die Zeiger von zehn Minuten nach sieben weiter.
    Alles bewegt sich weiter, immer weiter und weiter.
    Der Frühsommer liegt jetzt in der Luft. Erik Hansen hat von Johann gehört, daß Emilia zugestimmt hat, seine Frau zu werden, und fragt nun ständig, wann das Hochzeitsdatum festgelegt wird. »Emilia legt es fest«, erwidert dann Johann, »sobald sie dazu bereit ist.«
    Sobald sie dazu bereit ist. Während die Zeit verstrichen ist und sie Stunde um Stunde ihrem Schicksal näher gebracht hat, haben Emilias Träume von Karen bei Tag und Nacht zugenommen. Karen hat sich auf sie zubewegt, ist ihr immer näher gekommen, hat den Schatten und die Stille verlassen und Farbe, Gestalt und Stimme angenommen, so daß sie jetzt nicht mehr wie ein Gespenst erscheint, sondern genau so wie damals, als sie noch lebte und nachmittags auf ihrem Tagesbett lag und Emilias Liedern zuhörte.
    Dort läßt sich Emilia jetzt nieder, auf dem Boden neben dem Tagesbett. Sie schließt die Augen. Sie bittet Karen um Mut. Sie hat nämlich Angst,
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