Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
sehen?«
    Der Mann antwortet: »Ein gestreifter Luchs mit einem englischen Namen?«
    »Ja!« meint Marcus. »Weil er in der Neuen Welt ist.«
    Der Mann erwidert: »Ich komme aus der Alten Welt, habe aber auch einen englischen Namen. Ich bin Peter Claire.«
    Emilia ist allein im Zimmer und wartet. Sie streicht sich ihr Kleid nicht glatt, auch nicht ihr Haar. Sie bewegt sich immer noch, von einem Augenblick zum anderen, auf ihr einsames Bett im Wald zu und wird sich nicht davon abbringen lassen, nicht durch etwas, was vielleicht nur ein Echo ist oder rein zufällig etwas ähnlich ist, was, wie sie weiß, aus und vorbei ist.
    Als sie dann den Mann in die Halle und zum Schulzimmer kommen hört, merkt sie, daß sie zittert, ein wenig zittert aus Furcht vor dem, was mit dem menschlichen Herzen unter gewissen Umständen geschieht, wenn es sich nicht mehr wehren kann und den Mut verliert … Sie zittert nur sehr leicht, weil gleichzeitig heftig Hitze in ihr aufwallt, weil ihr Kopf und Körper plötzlich in Widerspruch stehen …
    Marcus führt ihn an der Hand herein – als kenne er ihn schon sein Leben lang. »Dort ist mein Luchs. Und hier ist Emilia.«
    Erst jetzt blickt sie auf.
    Er ist dünner im Gesicht und am Körper. Der Verband drückt ihm das volle blonde Haar nieder. Er trägt keine Laute.
    »Mr. Claire«, flüstert sie schließlich. »Ihr seid am Kopf verletzt …
    »Nein«, antwortet er. »Mein Ohr ist ein wenig in Mitleidenschaft gezogen, das ist alles. Nichts im Vergleich zu dem Schmerz, Euch zu verlieren. Nichts!«
    Marcus sieht zu, wie der verwundete Engländer zu Emilia hinübergeht, die nun doch aufgestanden ist, und die Arme um sie legt. Er erwartet, daß sich seine Schwester ihm entzieht, so wie sie sich immer Herrn Hansen entzieht, wenn dieser versucht, sie zu umarmen, doch das tut sie nicht. Sie läßt sich gegen den verwundeten Mann fallen und legt ihm den Kopf an die Brust.
    Marcus Tilsen ist dieser Mann lieber als Pastor Hansen, sogar sehr viel lieber, nicht nur, weil er groß und jünger als der Pastor ist, sondern auch, weil er jetzt in dem Mann eine Stimme hört, die ihm etwas zuflüstert (nur ihm, Marcus Tilsen), so wie ihm die Wühlmaus, der Käfer und der Schmetterling an Sommertagen zuflüstern, und es ist eine aufgeregte, zarte Stimme. Es geschieht zum erstenmal, daß er aus dem Innern eines Menschen angesprochen wird, und Marcus ist sich darüber im klaren, daß dies von Bedeutung sein muß.

    Marcus rennt zu den Erdbeerfeldern. Die Tauben gurren in den Bäumen, und die Frösche quaken in den randvollen Wassergräben.
    Als er seinen Vater findet, sagt er, ein neuer Ehemann für Emilia sei eingetroffen, ein verwundeter mit einem englischen Namen und einer Stimme, die man nicht hören kann – nicht einmal der Mann selbst, nur er, Marcus –, und er wisse, er könne mit ihr sprechen und sie antworten hören.
    »Marcus«, sagt Johann, »wovon in aller Welt redest du? Das ergibt keinen Sinn, mein Knabe! Mal langsam! Sag mir noch mal, was geschehen ist!«
    Doch Marcus findet keine anderen Worte als die bereits gesagten. Als einziger Zeuge von Peter Claires Ankunft hat er gesehen, wer dieser Fremde in Wirklichkeit ist: Emilias Mann. Es gibt keine andere Möglichkeit, und er kann es nicht anders erklären.
    So bleibt Johann Tilsen nichts übrig, als seine anderen Söhne zu sich zu rufen und mit ihnen zurückzukehren, halb gehend, halb rennend, wie ein Suchtrupp bei der Verfolgung eines Diebs. Als sie ins Schulzimmer gepoltert kommen, sehen sie Emilia und Peter Claire Hand in Hand am Feuer stehen.
    »Emilia?« setzt Johann an. »Was geht hier vor?«
    Doch dann hält er inne und blickt auf seine Tochter. Er hat nämlich in diesem Augenblick den Eindruck, nicht Emilias Gesicht, sondern Karens zu sehen. Es ist Karens Gesicht, das zu ihm aufschaut, wie sie an ihrem Hochzeitstag zu ihm aufschaute.
    Vielleicht sehen Ingmar, Wilhelm und die anderen Knaben auch diese plötzliche Ähnlichkeit mit Karen, denn alle sind ganz still, als stünden sie auf einmal unter einem Zauber, während Emilia und Peter Claire ihnen erklären, daß sie beide geglaubt hatten, ihre Liebe verloren zu haben, aber nun sei sie doch nicht verloren. Die letzten Strahlen der Nachmittagssonne fallen durchs Fenster auf Emilias Haar, so daß es mehr hell als dunkel wirkt.

    In der Nacht weckt Marcus seine Schwester und sagt: »Die Stimme sitzt in Peter Claires Ohr in der Falle.«
    Emilia stellt keine Fragen. Sie zündet eine Kerze an und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher