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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Rose Tremain
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einzig und allein auf sie angewandt wird, eine Ungerechtigkeit gegenüber anderen Gruppen, Kategorien und Zusammenschlüssen von Menschen begangen wird. Denn der Zustand der Sklaverei ist in unserer Gesellschaft gewiß weit verbreitet, nur daß er da nicht Sklaverei genannt wird: Er wird als Pflicht bezeichnet. Und die Hauptgruppe derjenigen, die in einem Zustand der Unterjochung leben und ihren Fesseln dennoch hübsche Namen wie Treue und Hoffnung geben, stellen die Frauen dar. Denn sind wir nicht – als Arbeitstiere oder zum Vorzeigen oder einer Kombination von beidem – im Besitz unserer Väter und Ehemänner? Arbeiten wir nicht und gebären Kinder, ohne einen Lohn dafür zu bekommen, außer dem des wimmernden Babys selbst, was überhaupt keiner ist? Könnten wir nicht ebensogut in der Mittagshitze Baumwolle pflücken, statt mit für das Brandeisen gespreizten Beinen auf dem Rücken zu liegen? Welchen Lohn hätten wir nicht schon allein für die Schrecken unserer Mühen und Schmerzen im Bett verdient, den wir aber nie bekommen?
    Diese Gedanken, die mein Blut im Laufe meines Lebens schon mehr als einmal vor Wut in Wallung gebracht haben, sind mir jetzt sehr nützlich, da sie eindeutig mehr als ein Körnchen Wahrheit enthalten und so mein Gewissen bei all meinem Tun mit meinen schwarzen Knaben beruhigen. Ich schmücke sie noch mehr aus. Ich frage mich: »Ist der Diener (unterbezahlt und ohne jeglichen Luxus) nicht ein Sklave seines Herrn? Ist das Kleinkind (gequält von seinem Wickelholz) nicht ein Sklave seines Schmerzes und seiner Dummheit? Ist das Wagenpferd nicht ein Sklave der Peitsche? Ist der Körper nicht ein Sklave der Sterblichkeit? Ist der strahlende Tag nicht ein Sklave der hereinbrechenden Nacht?« In jedem einzelnen Fall lautet die Antwort ja. Ich sehe also, daß der Zustand der Sklaverei in der ganzen Welt vorherrscht und es kein Entrinnen zu geben scheint. Das tröstet mich sehr. Denn so tue ich – wenn man die Schlußfolgerung aus meiner These zieht – gewiß nichts Böses, wenn ich von meinen lieben Knaben Samuel und Emmanuel gewisse Dinge verlange, sondern werde nur von den großen Gezeiten des Brauchtums und Herkommens getragen, die schon immer die Erde überflutet haben und es noch tun werden, wenn ich tot und dahingegangen bin.
    Was meine beiden Knaben betrifft, so bin bestimmt ich diejenige, die versklavt wird, und sie sind es, die frei werden, weil die ganze Kraft der Magie bei ihnen liegt.
    Sie warten auf mich in ihrem Zimmer (wo früher immer die vielen Kleider von Vibeke hingen), das ich mit hundert Kissen ausgestattet habe, und tun sich an Obst, Leckereien und dicken Waldschnepfen aus dem Wald gütlich. Sie können verzaubern, indem sie ihre lwa oder Geister anrufen, und ich sage zu ihnen: »Oh, meine lieben Kinder, meine schönen Ebenholzknaben, meine hübschen jungen Hengste, tut, was ihr wollt! Tut, was immer euch beliebt mit einer Frau, die beinahe Königin war, denn ich kann euch wirklich und wahrhaftig sagen, daß ich aller Dinge auf dieser Welt überdrüssig bin.«
    Ihnen treten vor Erregung die Augen schier aus dem Kopf, und aus ihren Kehlen kommen die seltsamsten Heullaute und -lieder. Ihre Glieder werden so steif, daß sie mich damit hochheben können und ich meinen Körper darauf balancieren kann, auf ihren beiden Gliedern und sonst nichts, so daß Teile von mir mit der Erde verankert sind und andere zu schweben scheinen. So etwas habe ich noch nie zuvor erlebt, und ich gerate bei diesem Schweben in eine Ekstase – mehr noch als je mit Otto und seinen Seidenpeitschen. Ich weiß, daß ich damit wirklichem Fliegen so nahe wie nie wieder komme.
    Ich könnte mich Tag und Nacht in diesem Zimmer aufhalten. Die Magie ist so stark, daß ich unserer Kunststücke niemals müde werde.
    Es ist mir sehr unangenehm, meine Aufmerksamkeit den Dingen dieser Welt zuzuwenden – wie den Briefen des Königs, meinem Bedarf an Geld, Möbeln und Marmelade und dem Dilemma mit dem englischen Lautenspieler. Ich möchte behaupten, daß ich an nichts mehr interessiert bin, was ich früher einmal amüsant gefunden habe. Vor meiner Einführung in die Schwarze Kunst hätte es mir stundenlang Frohsinn und Freude bereitet, mit Emilias Möchtegernliebhaber, der mir mit seinen gebrochenen Flügeln auf so wunderbare Weise ins Nest gefallen ist, herumzuspielen. Aber ich kann jetzt wirklich und wahrhaftig nicht mit ihm belästigt werden. Denn was ist er anderes als ein Sklave seiner Liebe zu Emilia? Wie
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