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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Rose Tremain
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versprochen, diesen nach Boller zu schicken. Darin waren Kleidungsstücke und Bücher, ein paar silberne Stiefelschnallen, ein Frisierspiegel und Notenblätter – an die hundert kleine Dinge, mit denen er handeln könnte. So wartet er also während seiner Fieberträume geduldig auf seinen Koffer. Der Arzt legt ihm einen Hahnenfußwurzelwickel aufs Ohr, und er bildet sich ein, in der Nacht irgendwo im Haus wildes Geheul zu hören.

    Die Tage vergehen. Jeden Morgen geht die Sonne am Fenster des Lautenspielers ein wenig früher auf, und auf dem Fenster ist sie jetzt fast schon warm. Der Wurzelumschlag senkt sein Fieber so weit, daß er im Zimmer herumlaufen kann.
    Er schaut zum Fenster hinaus. Er sieht, daß die Buchen im Park dem Wind jetzt Zweige bieten, die schwer vom grünen Laub sind; dieser Anblick des Frühlings gibt ihm sein Zeitgefühl zurück: Die Zeit drängt ihn nach England, die Zeit nimmt ihm Emilia immer mehr weg …
    Als ihn Kirsten besucht, fragt er nach seinem Koffer.
    »Koffer?« fragt sie. »Was für ein Koffer?«
    »Er sollte vom Schiff hergeschickt …«
    »Ihr erwartet, daß dergleichen hier eintrifft? Habt Ihr nicht gelernt, daß es auf dieser Welt keine Ehrlichkeit gibt, Mr. Claire? Der Inhalt Eures wertvollen Koffers wird schon lange verteilt worden sein, gleich im Hafen, wo Ihr angelegt habt – oder man hat ihn aus unerfindlichen Gründen in die Türkei oder sogar zum Kaspischen Meer geschickt. Ich würde ihn an Eurer Stelle vergessen.«
    Sie lacht, wie sie immer gelacht hat – laut und volltönend. Er schaut sie an, wie sie so an seinem Bett steht, die Augen sehr groß im weißen Gesicht, ihr üppiges Haar mit einem silbernen Kamm hochgesteckt. Er erinnert sich daran, wie der König einmal sagte: »Es ist zwecklos, Kirsten um etwas zu bitten. Sie käme der Bitte nur nach, wenn man etwas hat, was sie haben will.«
    »Ich trauere dem Koffer nach«, sagt er. »Er enthält nämlich Dokumente, die für Euch interessant sein könnten.«
    »Was für Dokumente?«
    Er beobachtet sie. Er sieht, daß ihre Nase einen Augenblick lang zittert, wie bei einer Maus, die Käse riecht.
    »Jene, die ich für Euch beschaffen sollte – über die Finanzen des Königs.«
    Sie springt vom Bett zurück und zieht dabei den Kamm aus dem Haar, so daß es ihr über den Rücken fällt. Dann faßt sie es wieder mit den Händen zusammen. Als sie sich ihm erneut zuwendet, meint sie: »Die Zeit für einen solchen Austausch ist vorbei, Mr. Claire! Leider, doch es ist nun mal so. In Eurem Koffer ist nichts, was für mich von Wert ist – und außerdem glaube ich, daß Ihr lügt. Wäre etwas Erwähnenswertes in Eurem Besitz, hättet Ihr mir schon viel früher Appetit darauf gemacht.«
    Sie schmettert die Tür hinter sich zu und schließt sie ab. Der Lautenspieler denkt darüber nach, wie oft doch diejenigen, die so unfehlbar Lügen bei anderen aufdecken, selbst Lügner sind, und fragt sich, welche Lügengebäude Kirsten um Emilia herum errichtet haben mag. Ihm ist klar, daß er von Boller wegmuß, um dahinterzukommen, kann sich aber augenblicklich nicht recht vorstellen, wie er dies bewerkstelligen soll.
    Unsicher steht er auf und geht noch einmal zum Fenster. Dort blickt er zum Himmel, der von einem so blassen Blau ist, daß man es kaum noch als solches bezeichnen kann, und auf die zarten, unruhig im Wind schwankenden Buchen. Er prüft, wie tief es hinter dem steinernen Fenstersims hinuntergeht, und stellt fest, daß es zu unbestimmt und steil ist, um auch nur im Traum daran zu denken.

KIRSTEN: AUS IHREN PRIVATEN PAPIEREN
    Immer wieder geht mir das Wort SKLAVE durch den Kopf.
    Es gibt in Dänemark Leute, die dagegen protestieren und es für eine Sünde halten, Eingeborene aus Afrika auf Baumwollplantagen von Tortuga arbeiten zu lassen oder sie an europäische Höfe zu verschiffen, damit wir uns mit ihnen schmücken. Ich finde das auch, denn warum sollten diese Menschen, nur weil sie hilflos sind, gegen ihren Willen gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen und Perücken aufzusetzen, oder aber mit einer Peitsche gegeißelt werden, um unter einer unbarmherzigen Sonne klebrige Baumwollbäusche zu pflücken? Würden sie nicht auch lieber in Frieden gelassen werden, um in einem Trompetenbaum zu sitzen, einen Affen zu streicheln, auf einer magischen Wurzel zu kauen oder einfach bloß zu sein , anstatt auf Gedeih und Verderb der Laune eines anderen ausgesetzt zu sein?
    Doch dann überlege ich, daß damit, daß das Wort SKLAVE
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