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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Rose Tremain
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geht mit Marcus zu dem Zimmer, in dem immer Erik Hansen untergebracht war, wenn er kam, um ihr den Hof zu machen, und in dem nun Peter Claire bei halbgeöffnetem Fenster in der Sommernacht liegt.
    Sie knien am Bett nieder. Peter Claire greift nach Emilias Hand, und Marcus entfernt den Verband vom Kopf des Engländers.
    Da das Ohr nun nicht mehr bedeckt ist, kann Marcus die Stimme viel deutlicher hören, und er denkt, daß es eine gequälte Stimme ist, von einem Tier, das in einer Falle sitzt, eine Stimme, wie sie ein Lebewesen haben würde, das ganz allein im Dunkeln mit einem Geschirr ans Bett gebunden ist.
    Er legt sein Ohr auf Peter Claires und lauscht. Er hört jetzt ein reißendes Geräusch, als beiße das Tier an dem Geschirr herum, versuche, seine Zähne in die Ledergurte zu schlagen.
    Er sieht, wie der verwundete Mann Emilias Hand fester umspannt, und Marcus begreift, daß keine Zeit zu verlieren ist. Er legt Peter Claire die Hände auf die Schultern, geht mit seinem Mund ganz nah ans Ohr heran und flüstert hinein.
    Der Musiker fühlt zunächst nur den Atem des Knaben auf der Wange, doch dann hört er einen ganz leisen Ton, wortlos, schwächstes Pianissimo, der einen beinahe musikalischen Widerhall in seinen Kopf entsendet.
    Die drei verhalten sich völlig still, die Köpfe zusammengesteckt, als tuschelten sie.
    Nach einer kurzen Weile hält Marcus inne und lauscht wieder. Er ist blaß, selbst im warmen Kerzenlicht, und hat Schweißperlen auf der Oberlippe. »Tief …«, murmelt er. »Verlaufen … Doch ich rufe weiter …«
    Marcus gibt jetzt lautere Geräusche von sich. »Ich habe es gefunden!« sagt er schließlich. »Es hat mich gehört!«
    Peter Claire hört jetzt einen Lärm ähnlich dem Rauschen eines Flusses, und mit dessen Strömung wird der glitschige, glänzende Körper eines Ohrwurms aus ihm heraus in Marcus’ Mund getragen.
    Marcus spürt, wie es auf seiner Zunge landet, dieses Wesen, das im Dunkeln eingeschlossen war und versuchte, sich den Weg hinauszufressen, dieses Wesen, das außer ihm niemand sehen und hören konnte. Er holt es ganz ruhig aus dem Mund und hält es den anderen auf der offenen Hand hin, damit sie auch einen Blick darauf werfen können.
    Auf seinem Rückenpanzer ist Blut. Mit seinen zarten Antennen versucht sich der Ohrwurm zu orientieren. Emilia und Peter Clarie blicken erstaunt und verwundert darauf. Dann geht Marcus ans Fenster und streckt den Arm aus. »Ohrwurm«, sagt er, »geh in die Nacht hinaus!« Als er weggekrochen ist, dreht sich Marcus zum Lautenspieler um. »Eure Wunde wird jetzt verheilen«, meint er.
    Peter Claire findet kaum Zeit, sich bei Marcus zu bedanken, weil sich dieser auf den harten Boden, da, wo er sich gerade befindet, legt und einschläft, wie ein Kind, das die Nacht damit verbracht hat, meilenweit unter dem Mond herumzulaufen.

    Emilia nimmt eine Decke vom Bett und deckt ihn damit zu. Sie kann sich aber nicht überwinden, das Zimmer zu verlassen. Sie sagt sich, daß sie auf Marcus aufpassen muß, und der Lautenspieler stimmt ihr zu: Über Marcus Tilsen, der die seltsamsten Wunder bewirkt, muß bis zum Morgen gewacht werden.
    So legen sich Peter Claire und Emilia nebeneinander aufs Bett und warten auf die Morgendämmerung. Er erzählt ihr, sie würden, wenn sie verheiratet sind, nach England reisen und in Harwich seinen Vater und seine Mutter besuchen, die sich nach seiner Rückkehr sehnen. Er sagt, dann würden an der Straße, die zur Kirche St. Benedict the Healer führt, die Kastanien blühen. »Wir müssen noch eine letzte Schiffsreise unternehmen, Emilia, doch ich weiß, daß wir ankommen.«

DER 3. MAI
    Die Kastanienkerzen stehen in voller Blüte, als George Middleton jetzt in einer offenen Kutsche auf dem Weg zu seiner Hochzeit ist. Als er auf diese schweren, weißen Dolden und die grünen Handschuhe der Blätter blickt, denkt er, daß diese Bäume Jahr für Jahr in ihrer übertriebenen Schau eine Antwort von ihm zu erwarten schienen, er jedoch nie eine gefunden hatte. Doch jetzt endlich kennt er sie. Er sagt zu Colonel Robert Hetherington, seinem Trauzeugen, der mit ihm im Wagen fährt: »Nun, Hethers, die Antwort lautet ganz schlicht ja.«
    Colonel Hetherington will schon nachfragen, worauf sich dieses hingeworfene »Ja« bezieht, entschließt sich dann aber, es nicht weiter zu beachten. Alle Männer sind an ihrem Hochzeitstag ein wenig merkwürdig, und George Middleton, der früher so verläßlich war und sich als Junggeselle von Cookham
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