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Melina und die vergessene Magie

Melina und die vergessene Magie

Titel: Melina und die vergessene Magie
Autoren: Susanne Mittag
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linken Hand zog er einen runden Gegenstand aus einer Tasche seiner Tunika, die rechte legte er zwischen zwei Käfigen auf eine strohähnliche Tapete und murmelte »Lorran ahav«. Im nächsten Moment schwang ein Teil der Wand zur Seite.
    Tann drehte sich zu ihr um. »Nichts anfassen. Einfach warten.«
    Melina wagte nicht, ihm zu folgen. Während er den Geräuschen nach wohl treppauf und treppab durch das Haus lief, untersuchte sie die Käfige genauer. In einem saß ein hasenähnliches Tier mit vier Ohren. Als es sich umwandte, entdeckte Melina auf seinem Rücken vier Augen. Und bei näherer Betrachtung entpuppte sich auch der Schwanz als Ohr – mit einem Auge. Melina wandte sich mit einem leichten Ekelgefühl ab. In einem Terrarium entdeckte sie eine Schlange mit einem schwarz-weißen Spiralmuster. Sie wand sich um einen Ast, wobei das Schwarz und das Weiß immer schneller wirbelten, bis der weiße Teil im Nichts verschwand. Melina sah ganz genau hin, aber das war keine Tarnung. Das war Zauberei! In einem Aquarium daneben entdeckte sie nur einige Luftblasen. Als sie sie anstarrte, nahmen sie die Form von Fischen an und bildeten einen Schwarm – aus Luft. Dann wurden die Blasen größer und schlossen sich zusammen zu einem Affengesicht, das im Wasser pulsierte, während es lächelte. Melina keuchte auf. Was war das hier? Ein Gruselkabinett für Fortgeschrittene? Oder wirklich … Magie?
    Die Tiere hatten ihr den letzten Beweis geliefert. Solche Dinge gab es sicher nicht in China, Papua-Neuguinea oder im entlegensten Winkel von Afrika. Der Begriff »Weltentore« war wörtlich gemeint! Das hier war nicht mehr die Welt, die sie kannte! Sie spürte, wie ihr der Atem wegblieb, während sie versuchte, das Unbegreifliche zu begreifen. Verdammt, sie wollte zurück! Zu ihren Eltern, zu ihren alten Freundinnen oder, wenn es sein musste, auch in diese blöde neue Schule! Es konnte einfach nicht wahr sein, dass sie auf ewig hier festsaß! Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie ließ sich verzweifelt auf den kalten Boden sinken. Sie umschlang ihre Knie mit den Armen und drückte das Gesicht in die Jeans.
    Auf einmal bemerkte sie, dass Tann in der Tür stand. Wie lange wohl schon? Auf dem Rücken trug er einen großen Rucksack, in der linken Hand hielt er ein Kleiderbündel.
    »Das ist für dich«, sagte er, von ihren Tränen verunsichert.
    »Ich brauche nichts, danke«, erklärte Melina und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht.
    »O doch!«, widersprach er. »Es muss ja nicht gleich jeder erkennen, dass ich mit einem Menschen reise.«
    »Reise?«, fragte Melina verwirrt, während sie aufstand und das hellbraune Leinenkleid, den dunklen Gürtel und die dunkelbraunen Schnürstiefel betrachtete.
    »Wir gehen nach Modora. Dort gibt es jemanden, der dir vielleicht helfen kann.«
    Tann gab ihr Gelegenheit, sich allein umzuziehen, und steckte Melinas Kleider in seinen Rucksack. Danach folgte sie ihm durch die Tür und über eine Treppe hinunter in das Erdgeschoss. Unten befand sich das große, gemütliche Wohnzimmer mit hohen Bücherregalen und einem gewaltigen Kamin. Lampen gab es nicht, aber Melina fand nicht heraus, warum es dennoch hell war. Als Tann die schwere Eingangstür aus Holz öffnete, zog er eine kleine Kugel aus der Tasche und sagte etwas in einer kehligen Sprache. Es klang wie »Slatáti ofér«. Im gleichen Augenblick erlosch das Licht und die Tür schloss sich hinter ihnen von selbst.
    Das Haus stand am Rand eines Waldes, und das Gras wuchs so hoch, dass es Melina fast bis zur Hüfte ging. Die Wiese erstreckte sich scheinbar endlos bis zu einer Bergkette und wogte im leichten Wind, als wären die Halme lebende, wispernde Wesen. Ein Stück entfernt entdeckte Melina eine Herde großer Tiere. Sie sahen fast aus wie Rehe, doch ihre schlanken Körper glühten tiefrot, als stünden sie in Flammen, und hatten einen langen, flackernden Schweif. Tann bemerkte, dass sie sie anstarrte.
    »Feuerkinder«, nickte er. »Tagsüber sieht man sie selten in der Nähe des Hauses.«
    »Was sind Feuerkinder?«
    »Sie wurden geboren aus der Glut längst erloschener Vulkane. Als diese Welt noch jung war, bestand sie aus Feuer und Eis. Ein paar Wesen in Lamunee erinnern uns noch heute an diese Zeit. Daran, dass nichts vergeht, sondern sich immer wieder wandelt.«
    Melina schloss die Augen und atmete tief ein. Noch nie hatte sie das Gefühl gehabt, eine Landschaft so intensiv riechen zu können. Die Luft duftete nach feuchtem
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