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Meister Li und der Stein des Himmels

Meister Li und der Stein des Himmels

Titel: Meister Li und der Stein des Himmels
Autoren: Barry Hughart
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handelsübliche Eisen. Das Säurewerk befand sich auf dem Kamm der
östlichen Hügel. Die Abwässer bahnten sich dampfend einen Weg, der sich beinahe
um die ganze Talschüssel zog. Weise und Gelehrte eilten herbei, um die
erstaunliche Wirkung zu beobachten, die die Abwässer hervorriefen, als sie das
Marschland erreichten. Das Wasser färbte sich leuchtend gelb. Bei Tag dampfte
und blubberte es; nachts ging davon ein gespenstisches violettes Licht aus;
Fische und Frösche trieben auf dem Rücken, und ihre entsetzten toten Augen
starrten auf die dicken schwarzen Wolken der Eisenhütte. Die Bäume waren
inzwischen alle tot; kein Vogel sang mehr, und der Lachende Prinz machte ein
paar hinreißende Witze über den Gestank. Es gab Leute, die protestierten. Aber
die Proteste verstummten, als der Prinz die Geschäftsbücher vorlegte. Die
Gewinne waren ungeheuer.
    Dann geschah etwas, das bis
heute niemand richtig versteht. Prinz Liu Sheng verlor plötzlich das Interesse
am Geldverdienen. Er wandte sich wieder seiner ersten Liebe zu; sein
wissenschaftliches Fachgebiet hatte er bereits abgesteckt. Er wollte die
Medizin revolutionieren.
    »Ich werde die Schleier der
Unwissenheit lüften, die über der Heilkunst liegen, und die Nerven und Zellen
sichtbar machen !« verkündete er.
    Die versammelten Weisen und
Gelehrten waren schockiert, als der Prinz ihnen einige der beabsichtigten
Experimente erklärte. Aber ihre Proteste verstummten abrupt, als er darauf
hinwies, daß er viele, viele Versuchspersonen brauchen würde. »Viele, viele, viele, viele«, sang er und vollführte seine kleinen Tanzschritte, »viele,
viele, viele, viele... Versuchspersonen!« Die Weisen und Gelehrten
tanzten mit. In der Nähe vom Schloß auf dem Drachenhorn befand sich eine
Grotte. Er verwandelte sie in sein medizinisches Forschungszentrum; die weisen
Männer, die seine Experimente beobachteten, applaudierten und priesen sie -
dann taumelten sie hinaus, um sich zu übergeben - oder sie protestierten und
wurden Kandidaten für die nächsten Experimente. Niemand bestritt die
Fachkenntnisse des Prinzen. Er war fraglos der größte Fachmann der Welt auf dem
Gebiet der Auswirkungen des Streckens, Zusammenpressens, Zerschneidens, der
Säurebäder, des Verbrennens, Brechens und Verrenkens - der menschliche Körper
wurde selten wenn überhaupt je so sorgfältig studiert. Jemand mit einem solchen
Zeitvertreib ist nie einsam. Der Lachende Prinz scharte Gleichgesinnte um sich.
Er nannte sie seine Munteren Mönche. Er kleidete sie in Gewänder, die aus
Narrenkostümen gemacht waren. Wenn sie mit einem Trupp Soldaten durch das Tal
zogen, um Bauern für die Experimente zu fangen, tanzten und lachten sie im
Mondlicht.
    Der Lachende Prinz war
unheilbar vom mörderischen Wahnsinn befallen. Die einen sagen, sein
kaiserlicher Bruder habe schließlich genug gehabt und ihm den gelben Schal
geschickt, der kaiserliche Befehl zum Selbstmord, andere leugnen das. Der Prinz
wurde jedenfalls krank. Er krümmte und wälzte sich im Fieberdelirium, schrie
und fluchte, und in seinen klaren Augenblicken sah er aus dem Fenster die
Verwüstungen im Tal und schwor, aus dem Grab zurückzukommen, um sein Werk zu
vollenden. Er starb. Man legte ihn in seine Grabkammer.
    *
    »Siebenhundertfünfzig Jahre
später hat man im Tal der Seufzer tanzende Mönche im Narrenkleid gesehen«,
sagte Meister Li, »Bruder Blinzel ist ermordet worden, und wie es aussieht,
wurde ein Teil des Tals auf eine Weise zerstört, die des Lachenden Prinzen
würdig ist .« »Uff«, sagte ich.
    »Uff in der Tat, obwohl
sich in solchen Fällen das poetische Versprechen beinahe immer als erschütternd
prosaisch erweist«, sagte Meister Li bekümmert, »wir wollen sehen, was uns die
Leiche von Bruder Blinzel erzählen kann .« Das Kloster
war sehr alt und für so ein kleines Tal ziemlich groß. Der Abt hatte seine
Mönche wie eine Ehrengarde aufgestellt und war enttäuscht, als Meister Li einen
Rundgang ablehnte. Meister Li wollte auch nicht mit dem Ort des Verbrechens
beginnen und erklärte, es sei unklug, sich einer Leiche mit dem Kopf voller
vorgefaßter Meinungen zu nähern. Also führte man uns eine lange gewundene
Treppe hinunter in den tiefsten Keller und in den Kühlraum. Überall hingen
Laternen. Im Raum war es sehr hell. Das bedeutet, die Schatten waren sehr
dunkel. Und der Kopf des Körpers auf dem Eisblock trat im Wechselspiel von
Licht und Schatten deutlich hervor. Ich blieb wie angewurzelt stehen und hielt
den
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