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Meister Li und der Stein des Himmels

Meister Li und der Stein des Himmels

Titel: Meister Li und der Stein des Himmels
Autoren: Barry Hughart
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jemanden, der zu so etwas fähig ist ?« Die Kröte betrachtete das Pergament kaum fünf Sekunden. Seine Augen traten noch
weiter hervor, und der Unterkiefer fiel ihm herunter.
    »Großer Buddha«, hauchte
er. »Ob ich jemanden kenne, der zu so etwas fähig ist? Das hier können nur die
Götter !« Völlig verzückt und entrückt hob er das
Pergament ins Licht und betrachtete es. Meister Li nutzte die Gelegenheit, um
meine Bildung zu erweitern.
    »Ochse, in der ganzen
Geschichte gibt es nicht mehr als zehn große Männer, deren Handschrift so gepriesen
wurde, daß Könige in den Krieg zogen, um etwas von ihnen Geschriebenes zu
besitzen«, erklärte er. »Diese Handschrift ist unverkennbar, und kein Kenner
kann einen Blick auf das Fragment werfen, ohne zu rufen: Ssu-ma Ch'ien ! Du hast doch bestimmt in der Schule einige seiner
Texte gelesen.« Natürlich hatte ich das, und natürlich würde ich Meister Li
nicht offen meine Meinung zu diesen Texten sagen. Geschichte war immer mein
Lieblingsfach gewesen, und so kann ich einige Textstellen immer noch auswendig.
»Als der Kaiser die Halle der Wohltuenden Tugend betrat, erhob sich in einer
dunklen Ecke ein heftiger Wind, eine riesige Schlange glitt daraus hervor und
ringelte sich um den Thron. Der Kaiser fiel in Ohnmacht, und in dieser Nacht
erschütterten Erdbeben Loyang, die Wellen überfluteten die Ufer, und Kraniche
schrien in den Sümpfen. Am fünften Tag des sechsten Mondes wehte ein langer
schwarzer Nebelschleier in die Halle der Konkubinen, heiß und kalt kehrten sich
um, ein Huhn wurde zum Hahn, eine Frau zum Mann, und Leiber fielen vom Himmel.« Das sind tolle Geschichten und das Richtige für heranwachsende Jungen. Na
ja, und dann waren wir alt genug, um den größten Historiker aller Zeiten Ssu-ma
Ch'ien zu lesen. Ssu-ma Ch'ien schrieb über genau dieselbe Geschichte: »Der
Untergang der Chou-Dynastie stand dicht bevor .« Pah!
    »Nichts ist schwerer zu
fälschen als eine Handschrift, und eine so großartige Handschrift zu fälschen
ist beinahe unmöglich«, erklärte Meister Li. »In jedem Pinselstrich kommt die
Persönlichkeit des Schreibenden zum Ausdruck, und der Fälscher muß zu dem Mann werden, dessen Schrift er kopiert. Jemand hat das Unmögliche vollbracht und
Ssu-ma Ch'ien perfekt nachgeahmt. Das Erstaunliche daran ist, er hat lächerlich
deutlich darauf hingewiesen, daß es eine Fälschung ist .«
    »Wie bitte, Meister ?« sagte ich.
    »Ochse, würdest du den
Namen deines Vaters schreiben, wenn du nicht über ihn schreibst ?«
    »Natürlich nicht!« Der
Gedanke entsetzte mich. »Es wäre unerhört respektlos, und es könnte sogar dazu
führen, daß sein Geist von Dämonen angegriffen wird .« »So ist es. Aber in einem Fragment, das angeblich von Ssu-ma Ch'ien stammt,
erwähnt er einen niederen Regierungsbeamten T'an sage und schreibe dreimal.
T'an war der Name seines Vaters .«
    Ich war sprachlos. Ich
konnte mir einfach nicht vorstellen, weshalb ein Fälscher ein Meisterwerk
geschaffen haben sollte, das auf den ersten Blick entlarvt werden würde. Der
Kröte ging es genauso.
    »Das ist unglaublich und
unverständlich«, murmelte er. »Habt Ihr den ganzen Text gesehen ?«
    »Nein«, erwiderte Meister
Li. »Soviel ich weiß, ist er kurz und war möglicherweise als Fußnote zu einer
der historischen Abhandlungen gedacht .«
    Die Kröte kratzte sich das
Kinn. »Das Pergament ist echt«, sagte er nachdenklich. »Wenn man an eine
Fälschung denkt, denkt man an die Gegenwart. Aber wäre es nicht möglich, daß
der Fälscher ein Zeitgenosse von Ssu-ma C h'ien war? Li Kao, wir wissen, daß
Kaiser Wu-ti seinen Katgeber Ssu-ma kastrieren ließ. Wissen wir genau weshalb?
Die offizielle Version erschien mir nie besonders einleuchtend, und diese
Fälschung ist so hervorragend, daß sogar Ssu-ma große Mühe hätte zu beweisen,
daß sie nicht von ihm stammt. Man kann sich vorstellen, wie schlaue
Höflinge den Kaiser darauf aufmerksam machten, daß der Großmeister Astronom und
Historiker so ehrfurchtslos sei, den Namen seines Vaters zu schreiben, und wenn
der Text noch abfällige Anspielungen auf den Thron enthielt...« In diesem
Augenblick wurde seine Stimme übertönt. Einer der Sünder betrachtete Meister
Lis ehrwürdige Falten und kam zu der Ansicht, jemand konkurriere möglicherweise
mit ihm um den Titel des Heiligsten aller Scheinheiligen. Er holte drei- oder
viermal tief Luft und hob den offenen Mund zum großen Sternenfluß.
    »Hör mich, o Himmel,
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