Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meister Li und der Stein des Himmels

Meister Li und der Stein des Himmels

Titel: Meister Li und der Stein des Himmels
Autoren: Barry Hughart
Vom Netzwerk:
zwölfte Tag des siebten Monds im Jahr der
Schlange 3339 (A. D. 650). Ich erinnere mich so gut daran, denn eine Vorahnung
quälte mich, daß etwas Dramatisches geschehen würde, und ich hatte im Kalender
nach günstigen Tagen gesucht. Ich tat es weniger aus kluger Voraussicht,
sondern weil ich mir etwas Dramatisches wünschte, denn ich machte mir Sorgen um
Meister Li. Seit einem Mond war er schlechter Laune gewesen. Er lag tagelang
nur auf seiner Pritsche und betrank sich bis zur Bewußtlosigkeit. Wenn er
nüchtern war, heftete er Bilder von Regierungsbeamten an die Wand und spickte
die Bretter der Hütte mit Wurfmessern. Er sprach nie mit mir darüber, aber er
war alt, beinahe unglaublich alt, und ich vermute, er fürchtete, er könne tot
umfallen, ehe etwas Interessantes geschah. Mir war zwar nicht ganz wohl dabei,
aber ich konnte mir keinen anständigen Wahrsager leisten und mußte mich deshalb
auf das Ta-shih verlassen, um zu erfahren, ob meine Vorahnung günstig
oder unheilvoll war. Das bedeutete, ich konnte nur sechs mögliche Antworten
bekommen: »erhabener Friede und Glück«, »ein wenig Geduld«, »auf der Stelle
Freude«, »Enttäuschung und Streit«, »wenig Glück« und »Verlust und Tod«. Ich
wagte nicht, den Zorn der Götter heraufzubeschwören, indem ich es mehr als
einmal am Tag versuchte. Ich befragte Ta-shih zum ersten Mal am achten
Tag des siebten Monats, und mir sank das Herz, als ich bei »Tod und Verlust«
landete. Am neunten Tag versuchte ich es noch einmal, und die Antwort war
wieder: »Tod und Verlust .« Mir schlug das Herz vom
Hals bis zu den Sandalen, als auch am zehnten Tag »Tod und Verlust« herauskam.
Am elften schlich ich mich vor dem Morgengrauen zum Tempel von Kuan-yin, um zu
beten. Nicht einmal die Göttin des Mitleids konnte helfen. Wieder lautete die
Antwort: »Tod und Verlust .« Ich bekam sie im Schatten
der Statue der Göttin, während die Sonne hinter den Stadtmauern auftauchte. In
diesem Augenblick hörte ich Klageschreie aus der Gasse, in der Meister Li
wohnt, und dann den schaurigen Ton des Wolkengongs. Mit Tränen in den Augen
stürmte ich zurück und rannte Ming Nummer Sechs über den Haufen. Dabei zerbrach
ich beinahe die zarten Buddhafinger, die Weihrauchstäbchen für das Opfer, die
er gerade für viel Geld gekauft hatte. Er nahm es mir nicht übel. Ich hatte
noch nie einen glücklicheren Menschen gesehen, und da begriff ich, daß die
Klagen und der Wolkengong aus seinem Haus drangen und nicht aus Meister Lis
Hütte. Urgroßvater Ming, ein Tyrann, wie er im Buche stand, hatte schließlich
geruht, den letzten Atemzug zu tun. Meister Li hatte mich also nicht verlassen;
er fühlte sich an diesem Tag sogar so gut, daß er am Abend ein paar Leute
einlud.
    Die Idee zu der Einladung
entsprang einer augenblicklichen Laune. Er fand die Herren in einem Weinlokal,
und die Damen gehörten zu einer der halbseidenen Yuan Pen-Truppen, die
ich der Tsa Chu-Oper bei weitem vorziehe. Alle amüsierten sich aufs
beste - nur nicht die Katze der Mings. Man hatte das Tier an den Sarg des
Urgroßvaters gebunden, weil man hoffte, böse Geister zu vertreiben, die
vielleicht auftauchen würden, um die hun - (Persönlichkeit) Seele zu
rauben, während seine po - (Gefühle) Seele unten in der Hölle gerichtet
wurde. Ich fand das mit der Katze entsetzlich - ein Hund, ja, aber jeder weiß,
wenn eine Katze über den Sarg springt, erhebt sich die Leiche, steigt aus dem
Sarg und richtet alles mögliche Unheil an. Auch die Katze fand ihre Aufgabe
entsetzlich und jaulte sich die Seele aus dem Leib. Einer der Gäste, ein Mann
mit einem aufgeschwemmten Gesicht, den ich nicht kannte, begann ein Würfelspiel
mit dem Namen »Himmel und Neun«. Dann beschlossen die inzwischen beschwipsten
Damen, die Katze zu übertönen, und johlten anzügliche Lieder aus dem
klassisch-ordinären Lustspiel »Der lustige Tanz von Herrin Lu«. In diesem
Moment zog ein Gewitter über Peking auf. Ein wilder Wind heulte kontrapunktisch
mit der Katze um die Wette, und plötzlich hatte das Dach ein Loch mit dem
Durchmesser von etwa einem Fuß. Schilf fiel in den Reistopf, ich fischte die
Stücke heraus, überließ das Kochen den Damen, ging hinaus auf die Gasse und
kletterte auf das Dach, um das Loch zu reparieren.
    Ich vergewisserte mich, daß
ich genug Schilf, Schnur, den Holzhammer und die Nägel hatte, und rutschte dann
auf dem Firstbalken entlang zu dem Loch. Die Damen machten eine Atempause vor
der nächsten Strophe. Aber der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher