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Meister Li und der Stein des Himmels

Meister Li und der Stein des Himmels

Titel: Meister Li und der Stein des Himmels
Autoren: Barry Hughart
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ich vermute,
der verstorbene Bibliothekar hatte ein ziemlich gequältes Dasein. Es ist
schlichtweg gefährlich, vor Liebe überzufließen, wenn es einem an Weisheit,
Redlichkeit und Anständigkeit fehlt .«
    »Ganz Bruder Blinzel«,
seufzte der Abt, »er war so etwas wie ein Spezialist in haarsträubenden
Geständnissen .« Bildung hin, Bildung her, ich schloß
fest die Augen. Die Steinwände warfen das Echo einer Säge zurück. Als ich die
Augen öffnete, hatte Meister Li die Schädeldecke der Leiche entfernt und
fischte den Inhalt des Kopfs heraus. »Weißt du«, sagte er im normalen
Gesprächston, »in meiner Jugend besuchte ich einmal den Hof des Muncha Khan. Er
hatte gerade wieder einmal ein feindliches Heer über die Klinge springen lassen
und feierte den Sieg mit einem Festmahl. Es fand auf dem Schlachtfeld statt,
und die Diener warfen die kostbarsten Teppiche auf die Leichen, damit wir
darauf sitzen konnten. Munchas Baum wurde herbeigerollt - ich erfuhr nie,
welcher Symbolismus dahintersteckte. In dem Baum saßen ein paar Diener mit
Pumpen. Der Baum bestand aus Silber und juwelenbesetzten Blättern. Vier
Silberlöwen am Fuß des Stamms streckten die Köpfe über vier Silberschalen, und
auf ein Zeichen hin floß aus den Mäulern der Löwen Stutenmilch. Vier
juwelenbesetzte Schlangen wanden sich am Stamm nach oben zur Spitze, und zwei begannen,
Leichenwasser, das heißt, vergorene Milch zu speien, die einen auf der Stelle
umwerfen kann. Die beiden anderen spien Teufelstrunk, vergorenen Honig. Und als
wir anständig betrunken waren, brachten die Köche das Hauptgericht. Es stellte
sich heraus, daß es Soldatenhirn war. Es schmeckte köstlich. Ich schnappte mir
einen der Köche, denn man weiß nie, wann man ein gutes Rezept brauchen kann,
und er sagte mir, es sei das Einfachste auf der Welt. Man greift sich einfach
jemanden, schlägt ihm die Schädeldecke ab, holt das Gehirn heraus und wäscht es
in Salzwasser. Dann reibt man es mit Knoblauch ein, brät es kurz in der Pfanne,
wickelt es in ein Kohlblatt, dämpft es zwei Minuten lang mit Zwiebeln, Ingwer
und einer Spur Rübensauce .« Meister Li hielt das Gehirn
ins Licht.
    »Für ein Festessen würde es
nicht taugen«, erklärte er, »Tuberkulose, wenn auch im Frühstadium. Ich
bezweifle, daß Bruder Blinzel etwas davon gemerkt hat, wenn man von
gelegentlichen Kopfschmerzen absieht .« Er ließ das
Gehirn auf das Eis fallen und wandte sich an den Abt. »Keine Spur von Gift«,
sagte er, »kein Anzeichen von Gewalt, keine exotische Krankheit von einem Ort,
an dem er unmöglich gewesen sein konnte. Kurz gesagt, kein Beweis für Mord.
Bruder Blinzel ist an einem Herzschlag gestorben .« Der
alte Mann blickte nachdenklich auf die Überreste der Leiche hinunter. »Es
könnte Mord gewesen sein, wenn man ihn absichtlich zu Tode erschreckt hat, aber
es wäre verdammt schwer, das zu beweisen. Abt, wenn wir die Kerle erwischen,
die die Handschrift gestohlen haben, solltet Ihr überlegen, ob Ihr sie nicht
wegen der angerichteten Schäden anklagt, anstatt auf einem Verfahren wegen
Mordes zu bestehen. Wir müßten die genaue Methode demonstrieren können, und
eine außergerichtliche Einigung wäre vielleicht vernünftiger. Was haltet Ihr
davon, wenn Ihr Euch darauf einigt, daß Euer Dach repariert wird? Es hat noch
kein Kloster gegeben, das keine Spenden für ein neues Dach sammelt, und so wird
es auch in Zukunft sein .« Der Abt wurde bei dieser
Aussicht fröhlicher. Meister Li wusch sich die blutigen Hände, und wir stiegen
die Treppe nach oben, während der Abt erklärte, daß das Kloster in früheren
Zeiten als Festung gegen Räuberheere gedient hatte und daß deshalb die unteren
Stockwerke aus riesigen Steinblöcken gebaut und die Fensteröffnungen mit dicken
Eisenstäben vergittert waren.
    »Es geschah kurz nach der
dritten Wache«, berichtete er, »ich lag wach und lauschte, ob Bruder Weh
endlich die Glocke richtig läutete, und ich hörte einen entsetzlichen Schrei.
Andere Mönche folgten mir, als ich zur Bibliothek rannte. Die Türflügel stehen
immer offen, aber die Tür war geschlossen und von innen verriegelt. Ich
schickte die Mönche hinaus, um einen Baumstamm zu holen .«
    Man hatte die Tür
aufgebrochen. Der Baumstamm lag noch im Gang. Wir betraten einen großen
quadratischen Raum. An drei Wänden standen Tische und an der vierten die
Ständer für Schriftrollen. Die Bücher bewahrte man in Nebenräumen auf. In der
Mitte des Raums stand ein großer runder Tisch
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