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Meister Li und der Stein des Himmels

Meister Li und der Stein des Himmels

Titel: Meister Li und der Stein des Himmels
Autoren: Barry Hughart
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Atem an. In meinem ganzen Leben hatte ich noch kein solches Entsetzen auf
einem Gesicht gesehen. Die hervorquellenden Augen und der offene Mund waren im
Ausdruck eines Menschen erstarrt, dessen letzter Blick auf den schrecklichsten
Abgrund der Hölle gefallen war.
    Meister Li sagte, der
Gesichtsausdruck sei insofern interessant, als er sich auf drei oder vier
Drogen zurückführen lasse, von denen jedoch keine in China verbreitet sei. Er
rollte sich die Ärmel hoch und öffnete sein Kästchen. Die Klingen blitzten in
dem kalten dumpfen Raum wie Eiszapfen. Der Abt schien wie seine vier Helfer,
die auf der Treppe stehengeblieben waren, dicht davor zu sein, in Ohnmacht zu
fallen. Ich werde mich nie daran gewöhnen und mußte mich zwingen zuzusehen. Die
Minuten vergingen wie tropfender Sirup im Winter. Nach einer halben Stunde
richtete Meister Li sich auf, und der mörderische Ausdruck auf seinem Gesicht
war nicht nur eine Wirkung der Schatten. »Mist !« knurrte er.
    Er beugte sich über die
Leiche, und seine Messer schnitten ärgerlich etwas ab.
    »Kein Yakmist, keine
Vulkanasche, keine Nonnenzöpfe und kein Tsao Tsao«, murmelte er, »nichts als
eine gewöhnliche Leiche .«
    Er machte sich wieder an
die Arbeit, und auf dem Eis neben dem Körper landeten die unterschiedlichsten
Teile von Bruder Blinzel.
    »Unser verschiedener Freund
war noch vor kurzem in einer großen Stadt«, stellte er sachlich fest, »der Tod
trat nicht länger als vier Stunden nach seiner Rückkehr ein .« Der Abt wich nervös zurück, als fürchte er Hexerei. »Bruder Blinzel war in
Ch'ang-an«, flüsterte er, »er ist wenige Stunden nach seiner Rückkehr gestorben .«
    »Er hat es mit seinen
Gelübden nicht allzu genau genommen«, bemerkte Meister Li, »ich würde sehr gern
wissen, wie er sich tausendjährige Eier leisten konnte .« »Kein Mönch kann sich tausendjährige Eier leisten«, erwiderte der Abt
entschieden. »Dieser konnte es... mindestens drei .« »Eier können sich tausend Jahre halten ?« fragte ich
zweifelnd.
    »Lug und Trug, Ochse,
Betrug und Fälschung«, antwortete
    Meister Li angewidert,
»Tünche über der verfaulten Wirklichkeit und mit Lügen vergoldet. Es sind
schlicht Enteneier, die mit Kalk behandelt werden. Der Kalk dringt durch die
Schalen und kocht den Inhalt langsam. Nach acht oder zehn Wochen wird das
behandelte Ei als tausendjährig ausgegeben und zu einem lächerlich hohen Preis
an einen gutgläubigen Neureichen verkauft. Diese Eier schmecken gut. Einige
barbarische Völker bauen eine Pflanze an, deren Frucht ganz ähnlich schmeckt.
Man nennt sie Avocado .« Er warf etwas Ekelhaftes in
einen Eimer, der auf dem Boden stand. »Verstopfung ist für eine medizinische
Untersuchung ein Gottesgeschenk«, sagte er, »Abt, vielleicht denkt Ihr auch
einmal darüber nach, daß Bruder Blinzel außer den Eiern in Ch'ang-an, es muß
eine große Stadt gewesen sein, sonst hätte er die tausendjährigen Eier nicht bekommen,
noch andere Dinge geschlemmt hat: Karpfen und Muschelsuppe, Hummer in pikanter
Sauce, eingelegte Entenfüße geschmort mit schwarzen Baumpilzen, gedünstetes
Ferkel mit Knoblauch, Nachspeisen, kandierte Früchte und Honigkuchen. Ich
schätze, sein letztes Mahl hat ungefähr sechsunddreißig Unzen in Silber
gekostet .« Der Abt schwankte. »Überprüft die Bücher !« schrie er seine Mönche an. »Macht eine Inventur der
Wachsstöcke und Weihrauchgefäße. Stellt fest, ob es Berichte über
Straßenräuberei gegeben habt !«
    »Wenn Ihr gerade dabei
seid, sollte jemand herausfinden, ob Bruder Blinzel eine ungewöhnliche Menge
Tusche für die Bibliothek bestellt hat«, sagte Meister Li, »und zwar Buddhas
Wimpern und Pergament von der Art Gelber Kaiser .« Die
Mönche stürmten die Treppe hinauf. Der Abt hob einen Zipfel seines Gewands und
fuhr sich damit über die Stirn. Meister Li hob wieder etwas Blutiges hoch.
»Ochse, du solltest sehr viel mehr über die Wissenschaft des Körpers lernen«,
sagte er, »das hier ist die Milz. Es ist keine sehr gute Milz; sie ist
funktionsfähig, aber nicht ganz zuverlässig. Und das ist bedauerlich, denn die
Milz ist der Sitz des Glaubens .«
    Er löste ein weiteres
unappetitliches Objekt aus der Leiche und schwenkte es durch die Luft.
    »Dasselbe gilt für das
Herz, den Sitz der Anständigkeit, für die Lunge, den Sitz der Redlichkeit, und
für die Nieren, den Sitz der Weisheit. Bruder Blinzel besaß nur ein
ausgezeichnetes Organ, die Leber. Sie ist der Sitz der Liebe, und
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