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Meister Li und der Stein des Himmels

Meister Li und der Stein des Himmels

Titel: Meister Li und der Stein des Himmels
Autoren: Barry Hughart
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für den Bibliothekar, und der Abt
zeigte uns die sorgfältig gezogenen Kreidestriche, die die genaue Lage der
Leiche hinter dem Tisch markierten. Wie er sagte, waren die Schriftrollen sehr
alt, aber völlig wertlos, denn es handelte sich um Aufzeichnungen des Lehens,
die jede Zahlung an die Herren des Tals festhielten. Man konnte sich erinnern,
daß die kaiserlichen Beamten mehrmals alles durchsucht hatten, um
festzustellen, ob sich zwischen dem Belanglosen vielleicht Schätze befanden.
Aber sie hatten nie etwas gefunden.
    »Bis Bruder Blinzel ein
Kuriosum entdeckte«, murmelte Meister Li.
    »Seine Leiche lag dort, und
sonst befand sich niemand im Raum«, sagte der Abt. »Wir sahen auf den ersten
Blick, wie die Eindringlinge hereingekommen waren, aber eigentlich war es
unmöglich .«
    Ein Seitenfenster, das
beinahe bis zum Boden reichte, ging auf einen kleinen Garten hinaus. Die
Eisenstäbe in der Fensternische waren so dick wie meine Handgelenke, aber vier
-zwei auf jeder Seite - waren wie weiche warme Kerzen zu einem bequemen
Einstieg auseinandergebogen worden. Meister Li hob eine Augenbraue. Ich ging
zum Fenster hinüber und spuckte in die Hände. Ich versuchte, die Stäbe
geradezubiegen, spürte, wie sich in meinem ganzen Körper die
    Muskel spannten, aber ich hätte ebensogut
versuchen können, schief gewachsene Kiefern geradezurichten. Keuchend ließ ich
los und trat zurück.
    »So«, sagte Meister Li,
verschränkte die Arme und kniff die Augen zusammen, »Ihr habt also einen Schrei
gehört. Ihr seid zur Bibliothek gerannt. Die Tür war von innen verriegelt. Ihr
habt einen Baumstamm geholt und sie aufgebrochen. Ihr seid hineingegangen und
habt niemanden gesehen. Hinter dem Tisch lag die Leiche des Bibliothekars mit
dem Ausdruck größten Entsetzens auf dem Gesicht. Eine unglaubliche Kraft hatte
die Gitterstäbe auseinandergebogen und einen Zugang zum Raum geschaffen. Was
geschah dann ?«
    Der Abt begann wieder zu
zittern. »Ehrwürdiger Herr, dann hörten wir den Ton, das heißt einige, denn
andere hörten überhaupt nichts. Es war der schönste Ton der Welt, aber
gleichzeitig brach einem das Herz. Er schmerzte, und
wir weinten. Dann begannen wir, ihm nachzulaufen. Wir mußten. Er rief uns !«
    Der Abt ging durch das
Fenster voran in den Garten, und Meister Li schnaubte angesichts der unzähligen
Abdrücke von Sandalen, die jede mögliche Spur verwischten. Wir gingen durch die
Klosterpforte hinaus, und ich erkannte, daß wir uns auf der Prinzentrift
befanden. Es war sehr schön hier. Zwischen den Bäumen und Blumen, die ich zeit
meines Lebens kannte, befanden sich fremde, die ich nicht identifizieren
konnte. Meister Li erkannte in einer Blume eine Goldbegonie und sagte, in ganz
China könne es nicht mehr als drei davon geben. Die Prinzentrift war in
Wirklichkeit ein riesiger Garten, und ich bekam ein Gefühl für seine Größe, als
wir eine Anhöhe erreichten und ich über das Tal hinwegblicken konnte. Der grüne
Streifen wand sich die gegenüberliegenden Hügel hinauf. Meister Li bestätigte
meine Vermutungen.
    »Die Erben des Lachenden
Prinzen waren entsetzt, als sie die Zerstörung sahen«, sagte er, »sie gelobten,
alles wiedergutzumachen, selbst wenn es tausend Jahre dauern sollte. Und man
bepflanzte die Prinzentrift, um die Narben der Säurespuren zu überdecken. Die
Bauern im Tal der Seufzer sind nur aus einem Grund nicht völlig verdorben: Die
Familie Liu ist reich an Land, aber arm an Geld. Und das meiste Geld fließt in
die Erhaltung der Prinzentrift und zahlreicher wohltätiger Einrichtungen .«
    Der Abt blieb auf dem
Gipfel eines niedrigen Hügels stehen.
    »Bis hierher sind wir
gerannt«, sagte er, »habe ich erwähnt, daß der Mond sehr hell schien? Eine
Täuschung war ausgeschlossen. Dort unten, also von dort unten schien der Ton zu
kommen, und dort sahen wir Mönche, aber sie trugen Narrenkleider, und sie
lachten und tanzten unter den Sternen. Normalerweise wären wir um unser Leben
gerannt. Aber der Ton rief uns, und es blieb keine andere Wahl, als ihm zu
folgen. Wir rannten weiter und kamen nahe genug heran, um die Narrengewänder
deutlich zu sehen, obwohl wir die Gesichter hinter den Gesichtstüchern nicht
sehen konnten. Die Mönche tanzten ins Unterholz und verschwanden. Kurz darauf
verstummte der wunderbare, schreckliche Ton, und als wir uns einen Weg durch
das Gebüsch gebahnt hatten, waren die tanzenden Mönche verschwunden. An ihrer
Stelle sahen wir etwas anderes .«
    Wir stiegen
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