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Kaktus zum Valentinstag

Kaktus zum Valentinstag

Titel: Kaktus zum Valentinstag
Autoren: P Schmidt
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Welt, ich komme!
    Am 29. Juni 1985, einem rostbraunroten Tag, durchschreite ich zum letzten Mal das Hauptportal des Gymnasiums Groß Ilsede – als Schüler! Im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Abi in der Tasche. Endlich frei! Welt – ich komme!
    Am Abend abiballt es in einer Gaststätte. Die meiste Zeit verbringe ich dort mit den Papamamas, meinen Eltern, und mit Katrin, einer Mitschülerin, mit der ich gelegentlichen Kontakt habe. Der Ball geht allmählich zu Ende, als ich doch noch auf die Tanzfläche muss. Ich weiß nicht, ob es dreiviertelt oder vierviertelt, und überhaupt, ich kann meine Füße nicht sortieren. Arme Katrin – vermutlicherweise.
    Aber dennoch spaßt es ungewöhnlich. Da spüre ich auf einmal etwas ganz Seltsames in mir, das ich von mir gar nicht kenne. Tanzen kann richtig Spaß machen! »Ja dann is Danz op de Deel, Danz op de Deel!« Nach diesem Lied tanzen Katrin und ich noch ein letztes Mal. Dann enden schließlich und endgültig die neun geduldig ertragenen Jahre auf dem Gymnasium Groß Ilsede. Das Lied echot in mir noch lange nach.
    Die Schulzeit, sie ist nun endgültig und für immer vorbei. Unwiderruflich. Zeit für ein kurzes Resümee.
    Es war einmal ein kleiner, geheimnisvoller Junge. Der zappelte an allen belebten Straßenkreuzungen und Bahnübergängen. Und kannte alle Länder samt ihren Umrissen und Hauptstädten. Derselbe Junge biss seine Mitschüler, wenn sie ihn ärgerten, weil er gehört hatte, dass er sich an der Schule einfach mehr durchbeißen müsse.
    Ich bin nie in einen Sportverein eingetreten, weil es da viel mehr um das Gruppenerlebnis als um das Spiel ging. Auch in der Klasse fehlte mir der Zugang zur üblichen spontanen Cliquenbildung. Ich war nicht ein einziges Mal in der Disco, weil zu lärmig laut und verr(a)ucht, habe nicht eine einzige BRAVO selber gekauft, weil da einfach zu viel Blabla drinstand. Ich habe nicht ein einziges Glas Bier getrunken. Halt, jetzt hätte ich fast gelogen. Die einzig nennenswerte Ausnahme war auf einer Klassenfahrt. Da waren wir im Biermuseum in Heidelberg, einem offiziellen Programmpunkt, den die Klasse gegenüber der Schulleitung als Kultur verkauft hat. Ich habe auch nicht eine einzige Zigarette geraucht, weil das gesundheitsschädlich ist und obendrein sehr gardinen- und klamottenstinkend macht.
    Und ich habe seit Jahren keine Geburtstagsgäste aus der Schule mehr eingeladen. Statt der Gesichter kannte ich die Nähte und Falten der Hosen der Mitschüler. Wie zum Beispiel den weißen, durchgescheuerten Ring auf der einen Tasche am Jeanshintern von Michael. Überhaupt schaute ich alle Menschen lieber von hinten an. So vermied ich den direkten, unangenehm wespenartig stechenden Blickkontakt.
    Die Pubertät fiel für mich quasi aus. Weil ich nicht flirten konnte. Warum, das wusste ich nicht. Aber es war so. Ich spürte es. So zeigte ich auch keinerlei sichtbares Interesse am anderen Geschlecht. Manche meinten daher auch, ich sei schwul. Wie auch immer, ich wollte auf jeden Fall irgendwann auch einmal meine eigene Familie haben. Und die gab es nun einmal nur mit einer Frau, auch wenn manch ein Junge doch auch ganz attraktiv ausgesehen hat.
    Die Schulpforte, sie liegt hinter mir. So beginne ich, das Leben nach der Schule zu planen. Die Meilensteine des Lebens sind schnell identifiziert: Studium überleben, einen Doktor machen, um endlich frei forschen zu können oder viel Geld zu verdienen, dabei möglichst eine Frau finden, später Familie gründen, Haus und Hof erstehen und vor allem viele Reisen rund um die Welt machen, um Straßen zu sammeln und Vulkane zu besteigen.
    Endlich kann ich hoffen, eine Welt zu finden, die vielleicht mehr bereithält für Menschen, die so sind wie ich. Endlich kann ich hoffen, viele der ungeliebten Dinge nicht mehr tun zu müssen. Endlich kann ich meinen Plan umsetzen. Endlich ist der Klassenklatsch vorbei. Und ich habe die Aussicht, aus dem Dorfmilieu ins Rampenlicht der Welt zu treten. Aufbruchstimmung!
    Clausthal-Zellerfeld ist eine überschaubare Stadt inmitten der Natur. Dort beginne ich mein Studium der Geophysik. Als mich meine Papamamas besuchen, haben sie mein grünes Büchlein mitgebracht, in das früher meine Mitschüler geschrieben haben. Ich frage meine Mutter, die für mich »die Locken« heißt, ohne dass ich sie jemals wirklich so genannt habe. Die Locken, weil ich sie als Kind immer unter der Haube mit diesen komischen, bunten, an drahtige Rohre erinnernden Lockenwicklern gesehen
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