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Meine Seele weiß von dir

Meine Seele weiß von dir

Titel: Meine Seele weiß von dir
Autoren: Sabine Ludwigs
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Zimmer 512 zugeht.
    Mein Zimmer.
    Er klopft stets an, ehe er eintritt. Ich glaube zu wissen, dass er es tut, damit ich im Kleiderschrank verschwinden kann. Völlig unnötig, weil ich bereits darin bin, lange bevor er auftaucht.
    Ehrlich gesagt, sitze ich die meiste Zeit des Tages hier drinnen und komme lediglich zum Schlafen, Duschen, Essen und natürlich zur Visite heraus.
    Nur hier, in der dämmrigen Stille, die mit der Wärme und dem Geruch meines Körpers angefüllt ist und in der ich dem stetigen, dumpfen Pochen meines Herzens lausche, fühle ich mich einigermaßen sicher. Ich schließe die Tür und sperre alles aus.
    Hier drinnen ist die Welt klein und bietet keinen Raum für unliebsame Überraschungen. Alles ist überschaubar, auch meine Angst. Niemand ist da. Nur ich und die Leere in meinem Kopf. Keine Reizüberflutung von unbekannten Menschen, Tönen und Bildern, die mich verwirren oder nervös machen. Hier kann ich nicht verloren gehen. Nicht noch einmal.
    Der Fremde, mein Mann, kommt herein. Er schließt die Tür hinter sich, durch die sekundenlang die typischen Geräusche eines geschäftigen Krankenhauses dringen, und setzt sich vor meinen Schrank. Mit den Knöcheln klopft er gegen das Holz.
    „Sina-Mareen, ich bin da“, begrüßt er mich, und ich mache „Hm“, nur um irgendwas von mir zu geben.
    Ich entsinne mich noch, dass er bei seinem zweiten Besuch gar nichts sagte. Man hörte lediglich, wie er sich auf den Fußboden setzte, den Rücken gegen die Schranktür lehnte, und dann war da sein Schweigen.
    Bis er auf einmal den Song I don't wanna miss a thing von Aerosmith vor sich hin sang. Und plötzlich, ich weiß selbst nicht, wie es passierte, fiel ich in den Refrain ein und unsere Stimmen harmonierten auf wunderbare Weise miteinander:
    „I don't wanna close my eyes
    I don't wanna fall asleep
    'Cause I'd miss you, babe
    And I don't wanna miss a thing …”
    Er verstummte.
    Ich ebenso.
    Ich hörte, dass er aufstand und ging.
    Er ließ mich in diesem Kleiderschrank zurück. Meine Gedanken wimmelten wie ein Schwarm silberner Heringe umher. Ohne Sinn und Verstand, einfach nicht zu fassen .
     
    Am dritten Tag erzählte er mir mehr von meinem Unfall.
    Am vierten von Rainer Maria, der seinen Appetit verloren hat. Er fläzt sich den ganzen Tag über in einem Schaukelstuhl. Dieser steht in einem Wohnzimmer vor einem Panoramafenster mit Blick in einen Garten. Ein schmiedeeiserner Zaun windet sich um das Grundstück.
    Er beschreibt alles so detailliert, dass es mir bildlich vor Augen steht. Außerdem habe ich das Gefühl, er erwartet etwas von mir. Einen Kommentar vielleicht. Oder eine Frage.
    Doch ich bringe nichts über meine Lippen.
    In den folgenden Tagen erzählt er mir, dass Dirk, ein Friseur, abgeschnittene Haare mit nach Hause nimmt und darin badet. Marina verehrt eine grüne Plastikspielzeugschlange als Gott und Barbara träumt seit fünf Jahren von einem Koch, der ihre Augen mit Schaschlikspießen durchbohren will, weswegen sie ihr Haus nicht mehr verlässt.
    Es liegt nicht an diesen bizarren Geschichten, dass ich den Atem anhalte, um ja keines seiner Worte zu verpassen, die gedämpft zu mir hereinklingen, sondern an seiner Stimme.
    Sie ist tief, ein bisschen kehlig und unglaublich sinnlich. Ein Timbre, das sich wie die Fingerspitzen einer rauen Männerhand anfühlt. Fingerspitzen, die sich in meinen Nacken stehlen, um unendlich langsam mein Rückgrat hinunterzuwandern.
    Ich genieße die Gänsehaut, die sie mir verursacht. Ich kann gar nicht genug davon bekommen und frage mich, wie der Mann aussieht, dem diese Stimme gehört.
    „Einfach um-wer-fend“, will man glauben, was Schwester Bianka zu Schwester Gabi gesagt hat. „Um-wer-fend! Beinahe wie Antonio Banderas!“
    Natürlich spiele ich manchmal mit dem Gedanken, heimlich die Schranktür zu öffnen und „meinen Mann“ zu betrachten. Aber ich traue mich nicht, weil sie quietscht und er es bemerken könnte. Und ich will nicht, dass er dann womöglich zu mir hereinschaut. Direkt. Von Angesicht zu Angesicht. Ich bin einfach noch nicht so weit, jemanden von da draußen einzulassen.
    Es raschelt, wenn er die Tageszeitung neben sich legt, die er mir mitbringt, damit ich auf dem Laufenden bleibe und über das Erdbeben in China, den Zyklon in Birma und diesen abscheulichen Kerl lesen kann, der seine Tochter vierundzwanzig Jahre in einem Kellerverlies gefangen hielt, sie vergewaltigte und sieben Kinder mit ihr zeugte, bevor sie freikam.
    Viel lieber
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