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Meine erste Luege

Meine erste Luege

Titel: Meine erste Luege
Autoren: Marina Mander
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drücken uns auf der Couch aneinander, Blu ist unter dem Fell ganz klein. Ich gehe in mein Zimmer. Blu folgt mir, ich werfe mich aufs Bett. Stehe auf, gehe zurück dahin, wo ich vorher war. Ich sehe in Mamas Wörterbuch nach, was bei dem Wort Tod steht, vielleicht irgendwelche Kleinigkeiten, ein paar mehr Kleinigkeiten, irgendwas, damit ich verstehen kann, was passiert. Das Wörterbuch ist schwer, wenn man es hochhebt.
    Da steht: Ende des Lebens von Mensch, Tier oder Pflanze.
    Da steht: Strich, zufälliger, plötzlicher, langsamer, frühzeitiger, Semikolon und so weiter und so weiter, also eigentlich steht da nichts. Es stimmt nicht, dass man in Büchern die Antwort findet.
    Dann steht da noch: Strich, tot umfallen, eines plötzlichen Todes sterben, todmüde, zum Umfallen müde, okay. Ich bin auch zum Umfallen müde, aber ich glaube nicht, dass ich tot bin. In Büchern sterben die Leute nie wirklich, und in Filmen auch nicht.
    Ich lasse das Wörterbuch auf den Boden fallen, das fällt auch hin wie tot, mit beim Buchstaben M aufgeschlagenen Seiten, wie ein Cowboy, den die Indianer erschossen haben – ihr habt mich erwischt, ihr Dreckskerle.
    Wir gehen in die Küche. Blu streicht und dreht sich um mich herum wie die blöde Tänzerin auf der Spieldose von meiner Oma, er wirkt auch nicht echt mit den steifen Schnurrhaaren wie Spitzen aus Spitze. Ich schiebe eine Pizza in die Mikrowelle. Die Pizza in der Mikrowelle wird in ein paar Minuten heiß und wie lebendig. Ich verbrenne mir die Zunge am Mozzarella, die Zungenspitze wird gefühllos, ich zeige sie Blu. Das interessiert ihn nicht, er ist auch gefühllos, er will nur ein Stück Margherita. Essen, Schlafen. Blu interessiert sich vor allem für Essen und Schlafen. Ich werde es halten wie er, auch wenn ich noch zur Schule gehen und Hausaufgaben machen muss. Aber wenn Mama tot ist, muss ich auch noch einkaufen, was zu essen für den Rest der Familie besorgen. Ich suche ihre Tasche, um zu sehen, ob wir ein bisschen Geld haben, um uns durchzuschlagen. Da ist welches, gar nicht so wenig, Glück gehabt. Die EC -Karte ist auch da, fehlt nur die Geheimnummer. An das Geld muss ich mich gewöhnen, damit bin ich nicht so gut, die Nullen bringen mich durcheinander, kommen mir vor wie Seifenblasen, die ich nicht zu packen kriege. Da ist auch ihr Handy, ich mache es aus. Mama mag es nicht, wenn ich in ihrer Tasche krame, aber ich habe keine Wahl.
    Wenn sie sich mit dem Aufwachen nicht beeilt, weiß ich auch nicht.
    Wenn sie mich sehen könnte, würde sie mich anschreien, aber sie sieht mich nicht, schreit mich nicht an, denkt gar nicht an mich, will mich überhaupt nicht. Es interessiert sie nicht die Bohne, was es heißt, in meinem Alter eine Waise zu sein, sie hat ihre eigenen Probleme, Dinge, die ich nicht verstehen kann, ihre Probleme sind größer als meine, weil sie größer ist, ich bin noch klein. Klein, aber einsam, ist das so wie groß, aber einsam?
    Ich weiß nicht, wie sie das sieht.
    Die Erwachsenen können weggehen, wenn sie wollen. Ich nicht. Ich kann sonst nirgends hin. Ich muss hier mit ihr bleiben, mit ihr, die im Zimmer ganz hinten ganz tief schläft. Ich aktiviere das Ohroskop, aber ich höre keine Fliege fliegen. Das Ohroskop ist das Gehör der Fledermäuse, die durchs Dunkel irren, es ist ein System, um nicht mit dem Gesicht gegen Hindernisse zu knallen oder wenigstens nicht so, dass es zu arg wehtut, doch diesmal schaffe ich es nicht, es in Gang zu setzen. Ich muss hierbleiben, bei ihr, die nicht mehr mit mir spricht und mir nicht mehr zuhört, ich muss mich um den Kater kümmern, der immer Hunger hat. Und um mich.
    Mama ist eine blöde Ziege. Blöde Ziege, dumme Kuh. Alle Erwachsenen sind Arschlöcher und Scheißer. Schweine. Stinker. Kacker. Hirnverbrannte. Dummbeutel und Blödmänner. Riesenscheißarschlöcher. Schwachmaten. Idioten. Ich hasse sie.
    Das ist wie Hass in Träumen, wenn du hasst, dann hasst du, und wenn dir etwas gefällt, dann gefällt es dir wahnsinnig, Ozeandampfer aus heißer Schokolade und ganze Nachmittage mit Antonella oder Riesenwellen aus Schweinsdreck, die ins Gesicht vom Arschgesicht klatschen, und wenn ich nichts tun kann, hasse ich das. Ich hasse es, nichts tun zu können, aber was kann ich tun?
    Mama, ich bitte dich, sag mir, was ich tun kann.
    Und ich muss weinen. Ich weiß nicht, ob es richtig ist zu weinen.
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