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Meine erste Luege

Meine erste Luege

Titel: Meine erste Luege
Autoren: Marina Mander
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können.
    Ich sehe mir inzwischen den Dokumentarfilm an. Ich habe doch sowieso nichts zu tun.
    Blu kuschelt sich an mich und schnurrt.
    Mir scheint, in der Wohnung ist zu viel Stille.
    Wenn zu viel Stille ist, ist Stille lauter als Lärm, wie bei den Taubstummen, denen ich manchmal in der Straßenbahn begegne. Sie fahren zur Taubstummenschule, wo sie sich mit Gesten verständigen können, doch auf der Fahrt dahin machen sie eine Menge komischen Lärm, und du musst ihnen einfach zuhören. Wenn die Fahrkarte im Entwerter stecken bleibt, ist es bei ihnen, als wäre eine Fischgräte im Hals hängen geblieben.
    Die Stille dagegen füllt den Kopf wie das weiße Heft, zu groß, als dass man was damit machen könnte.
    Es gibt eine Stunde, in der man die Stille stärker spürt, kurz vor dem Abendessen, bevor der Tag endet. Da gibt es höchstens die Autos, die am Haus vorbeiflitzen und schnell wegfahren. Sie sind in dem Leben, das draußen ist, jenseits der Fensterscheiben, jenseits des Fernsehbildschirms und des Lärms der Fernsehfilme, jenseits der Dinge, die weit weg passieren. Dann kommt normalerweise Mama nach Hause und fängt an, das Abendessen zu richten. Auch wenn ich in meinem Zimmer bin, höre ich Schranktüren zuschlagen, das Mückensummen des elektrischen Dosenöffners, ein metallisches Kramen in der Besteckschublade, es ist gut, sage ich mir, es ist alles gut. Wir sind sicher. Ich gehe zu ihr und umkreise sie wie eine Tsetsefliege. Tsetsefliegen plagen auch Löwen. Löwen schlafen zwei Drittel vom Tag und werden abends wach, um zu fressen. Weil Winter ist, wird es früh dunkel, finster-schwarze Nacht ist schon um fünf.
    Alle zwei Minuten bekomme ich Lust, in ihr Schlafzimmer zu gehen, um nachzusehen, ob irgendwas passiert ist, ob Mama die Äpfel probiert hat, aber ich habe Angst, dass ich enttäuscht bin, wenn sie sie nicht mal angerührt hat.
    Besser warten, bis es Abend ist, im Winter wird es früher Abend.
    Man braucht Geduld, klar, ich weiß, ich habe ganz viel Zeit, es bringt nichts, das ständig zu wiederholen.
    Wenn ich die Augen zumache, ist alles schwarz, wenn ich sie aufmache, ist alles dunkel.
    Ich bin eingeschlafen, mir ist kalt, der Film ist zu Ende. Der Regen schlägt gegen die Fensterscheiben, und der Rest ist Stille. Die Umrisse der Möbel sehen aus wie Elefantenrücken in der Savanne, über meinem Kopf hängt drohend der dunkle Fleck des Gemäldes.
    Blu schnarcht auch vor sich hin. Ab und zu macht er ein nuckelndes Geräusch, vielleicht träumt er, Milch zu nuckeln, denn im Traum kriegt man von Milch keinen Dünnschiss, von Wurst keine Pickel, Sehnsucht oder Melancholie – das Schöne bei Katzen ist, dass sie klein bleiben, auch wenn sie wachsen.
    Blu versucht immer, Milch von mir zu kriegen, wenn ich frühstücke, aber ich kann ihm keine geben, weil er von Milch Bauchschmerzen bekommt. Einmal hat er auf Mamas Bett gemacht, und sie musste alles in die Waschmaschine tun.
    Â»Ich schwöre, den Kater stecke ich auch rein.«
    Aber das hat sie dann doch nicht getan, das war nur ein Witz.
    Ich habe einen schlechten Geschmack im Mund, wie wenn man was Verdorbenes gegessen hat, vielleicht bin ich auch krank, wie Mama. Und werde nicht mehr wach. Wie ein Schlafwandler gehe ich durchs Zimmer, tastend und mit ausgestreckten Armen suche ich den Lichtschalter, mache alle Lichter an. Ich mache den Fernseher wieder an, mache alles an, auch die Stereoanlage und das Radio, so wirkt die Wohnung, als wäre sie voller Leute.
    Ich gehe in Mamas Schlafzimmer. Aus. Sie ist immer noch wie ausgeknipst.
    Ich suche eine Einzelheit, die mir sagt, dass sie sich bewegt hat, ich weiß nicht, vielleicht die Haare, ich glaube nicht, ich frage mich, ob sie vorhin wirklich genauso wie jetzt war, rufe, schreie, kneife sie, nichts. Ich spüre, wie mein Gesicht wieder nass wird, spüre, dass ich es nicht schaffe zu schlucken, spüre, dass meine Beine beben und das Kinn und auch die Stimme, ich spüre Wärme im Magen, aber sie spürt nichts mehr. Ich glaube, sie ist wirklich tot.
    Ich rolle mich neben ihr zusammen. Das Kissen wird klatschnass. Mir geht es wahnsinnig schlecht. Ich bleibe so liegen, bis mir klar wird, dass ich unmöglich immer so liegen bleiben kann.
    Als ich ins Bad gehe, habe ich rote Augen, ein Gesicht, als hätte ich die Grippe. Ich nehme die Zahnpasta und drücke sie mir in den Mund, ohne
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