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Meine erste Luege

Meine erste Luege

Titel: Meine erste Luege
Autoren: Marina Mander
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sie dabei sind.
    Gefallen tun den Erwachsenen dafür die Wörter Schwiegervater, Schwiegersohn, Servolenkung, Urlaub, Kollege, Kredit, Parodontose und vor allem Wörter, die auf -gie enden: Psychologie, Neuralgie, Nostalgie, Strategie, Allergie.
    Mama zum Beispiel leidet an allen Gies zusammen.
    Sie sagt, dass die Psychologie ihr nicht hilft, dass die Neuralgie sie um den Schlaf gebracht hat, dass sie mit Nostalgie an einen Mann denkt, der noch ein Mann ist, dass man aber eine Strategie haben müsste, um einen Mann zu finden, der ein Mann ist, oder um mehr Geld zu verdienen, dass mit den Pollen jedes Jahr die Allergie explodiert, dass Impfungen überhaupt nicht helfen.
    Ich bin gegen all das geimpft.
    Mama jammert immer, und manchmal ist sie wirklich ein bisschen traurig, aber komischerweise, wenn sie ganz ganz traurig ist, hört sie sogar auf zu jammern, sie geht langsam und ruhig durch die Wohnung wie ein Engel, der schmollt. Neulich habe ich sie kurz gesehen, als ich den Flur runterging, die Tür zu ihrem Schlafzimmer stand halb auf. Sie saß auf dem Bett und zog die Nase hoch, sie hatte rote Augen und geschwollene Lider, ich glaube, nicht wegen der Allergie. Es ist nicht schön zu sehen, dass deine Mama weint, denn du weißt nicht, wie du ihr helfen kannst. Außerdem möchtest du der Einzige sein, der zu Hause weint, wenn ihm danach ist, denn du bist ja noch nicht groß, also kannst du, auch wenn es dich selbst ärgert, noch manchmal weinen, du darfst das, denn deine Freunde tun es auch. Ich beneide meine Schulkameraden, die einfach losheulen können, wenn ihnen danach ist. Bei mir geht das nicht, denn Mama ist so traurig, dass ich nicht trauriger als sie sein kann. Sonst ertrinken wir noch. Und wir haben keinen Papa, der uns rettet wie so ein Feuerwehrmann, der einen bei Anschlägen aus der Gefahrenzone trägt, ein Papa vom Typ Papa aus der Werbung. Wir sind immer ein bisschen in Gefahr.
    Mama sagt, dass Papa sich in Luft aufgelöst hat. Wenn sie das sagt, schaut sie nach oben, über meine Schultern hinweg, als wäre die Luft noch da, hinter mir, als sähe sie ein Gespenst, und ich drehe mich spontan um. Aber ich kann nichts entdecken, nur das Bild mit einem aufgewühlten Meer, das über der Couch mit den zerkratzten Lehnen hängt, ein scheußliches Bild, auf dem das Wetter voll scheußlich ist, mit einer gekritzelten Unterschrift unten rechts.
    Â»Es ist impressionistisch«, erklärt Mama, »da geht es um den Eindruck.« Dies hier ist höchstens eindrucksvoll scheußlich.
    Ich habe nie kapiert, ob Papa echt gestorben ist oder ob er nur für uns in dem Moment, als ich auf die Welt gekommen bin, gestorben ist. Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß nicht, ob er sich nicht gerade auf einem Motorrad mit irgendeiner Ersatzmama amüsiert. Aber ich will nicht darauf herumreiten, es scheint mir nicht richtig, meine Nase da reinzustecken. Ich gebe mich mit der offiziellen Version zufrieden, es macht ja auch keinen so großen Unterschied, er ist sowieso nicht da. Ich versuche meistens, das Thema zu wechseln, wie wenn Mama mich nach der Schule fragt oder nach der Klassenarbeit, dann konzentriere ich mich auf einen Zeigefinger und finde ein Häutchen, das man mit den Zähnen abreißen kann, oder einen kleinen weißen Fleck auf dem Nagel, eine kleine Lüge, sagt man bei uns, aber der Doktor sagt, es zeigt an, dass ich Kalziummangel habe. Und das, wo Mama mich immer zwingt, Milch zu trinken.
    Sagen wir also, dass ich schon mehr oder weniger immer Waise väterlicherseits bin, und Waise ist übrigens das einzige Wort, das ich hasse und das auch die Erwachsenen hassen. Über Waise sind wir uns einig.
    Waise ist in meinem Fall wie ein Mantel, dem ein Ärmel fehlt.
    Die Kinder benutzen das Wort Waise als Schimpfwort.
    Die Erwachsenen dagegen sagen das Wort Waise, wenn sie es aussprechen, halblaut, wie wenn sie über Krankheiten reden oder über ein Unglück, das zum Glück den anderen zustößt. Es gibt viele Eltern, die beschließen, dass sie aufgeben, es gibt viele Kinder, die einen der beiden nur von Zeit zu Zeit sehen, aber Waise, nein, das ist wirklich übel, es ist, als würde dir ein Stück fehlen, und alle sehen nur dies Stück, das nicht da ist. Du bist nicht das, was du bist, sondern das, was dir fehlt. Wie wenn einer ein Glasauge hat, dann starrst du in das Glasauge, das nichts sieht, und nicht in das gesunde,
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