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Meine 500 besten Freunde

Meine 500 besten Freunde

Titel: Meine 500 besten Freunde
Autoren: Johanna Adorján
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wohl am heutigen Abend präsentieren wird.
    Irgendwann weckt ihn lauter Applaus aus dem Schlaf, in den er versehentlich gefallen war. Ein rascher Seitenblick zu Luise verrät ihm, dass sein Missgeschick unbemerkt geblieben ist und er klatscht schnell mit. Auf der Bühne tritt Walther Finsterkuhl gerade einen Schritt vom Mikrophon weg und macht mit den Armen eine einladende Geste in Richtung Zuschauerraum. Theodor dreht sich um. Zu seinem Entsetzen sieht er, wie Marius Meynhardi sich gerade durch eine weiter hinten liegende Sitzreihe quetscht, den Hut immerhin hat er abgenommen. Sollte er für seinen »Übervater« tatsächlich eine Edelfeder erhalten haben? Weil der Applaus immer noch anhält, wagt er es, im Flüsterton seine Frau zu fragen, um welchen Preis genau es sich handelt. Die sieht ihn nur vorwurfsvoll an. Also beschließt Theodor, sich von nun an erneut mit voller Konzentration dem Geschehen auf der Bühne zu widmen. Tatsächlich hat der Pokal, den sein Kollege Momente später aus den Händen einer langbeinigen Dame entgegennimmt, eine goldene Farbe. War es am Ende um die Seriosität dieser Veranstaltung doch nicht so rosig bestellt? Zum ersten Mal erlaubt sich Theodor einen Zweifel. Was, wenn die Jury, die einen Text wie »Der Übervater« für auszeichnungswürdig hielt, die Goldene Edelfeder in der Kategorie Politische Reportage nicht ihm zugesprochen hatte, sondern einem der anderen vier Nominierten? Mendele Dreyfus am Ende, einem wichtigtuerischen Freien, der seit Jahren nur Variationen desselben viel zu langen Textes über die israelische Siedlungspolitik schrieb? Oder Petra Hennig, einer ehrgeizigen ehemaligen Praktikantin aus seinem Ressort? Wovon hatte ihr Text noch einmal gehandelt, hatte es nicht irgendetwas mit dem Familienministerium zu tun? Oder Peter Seifert, einem Schönschreiber von der Frankfurter Konkurrenz, der über Horkheimer promoviert hatte, weshalb er alles und jedes auf die Kritische Theorie hin durchdeklinierte. Er war für eine Reportage über Sudetendeutsche nominiert. Wer der fünfte ist, fällt Theodor im Moment nicht ein. Egal. Er kann sich beim besten Willen niemand anderen als sich selbst dort oben auf dem Podium den goldenen Pokal entgegennehmend vorstellen, und das will er auch gar nicht. Wie lautete noch mal der Satz, mit dem er seine Dankesrede beginnen will: »Das Ziel des Schreibens ist es, andere sehend zu machen« (Joseph Conrad), und deshalb könne es nicht darum gehen, edel zu schreiben oder schön (ein Seitenhieb gegen den Namen des Preises). Nachdem er dann einige Worte über den Zustand Deutschlands verlieren würde, das schließlich Gegenstand seines Textes war, würde er seine Rede mit einem weiteren Zitat abschließen: »Das schwere Herz wird nicht durch Worte leicht.« Zum einen, weil ihm dieser Satz eine elegante Melancholie zu verströmen scheint, zum anderen möchte er damit seinem Chef eine Freude machen, dessen Lieblingsdichter Schiller ist. Ob er nun anders enden sollte, da Köhler ja offenbar gar nicht anwesend war? Aber vielleicht würde ihm dessen Frau alles en detail erzählen, hofft Theodor uneint Theodd beschließt, alles genau so zu machen wie geplant. Insgesamt würde seine Rede nicht länger dauern als zwei Minuten, wenn er genauso schnell oder langsam sprach wie neulich, als er sie vor seinem Aufnahmegerät probiert hatte, sogar nur eine Minute und 51 Sekunden. Vorausgesetzt natürlich, währenddessen wurde nicht allzu lange gelacht oder applaudiert.
    Marius Meynhardi ist inzwischen von der Bühne abgegangen, und Theodor hat nicht ohne Genugtuung registriert, dass der Applaus abebbte, bevor er seinen Sitzplatz erreicht hatte. Die Bühne betritt jetzt der nächste Laudator, es ist … der gehypte Jung-Schriftsteller Viktor M., was um Himmels willen hat er dort zu suchen?, denkt Theodor, bevor ihm klar wird, dass ebenjener nun den Preis für die Kategorie Politische Reportage überreichen wird, also für seine, Theodors Kategorie. Er fühlt Enttäuschung in sich aufsteigen. Er hatte sich für diesen Programmpunkt jemand Würdigeren vorgestellt, insgeheim sogar gehofft, dort nun Köhler auftreten zu sehen, aus dessen Hand er den Pokal gerne entgegengenommen hätte. Manchmal hatte er den Eindruck, dass Köhler sein Talent übersah. Dass er zu sehr vom Charme der jüngeren Redakteure geblendet war, den beiden Christians zum Beispiel, mit denen er verdächtig oft zum Mittagessen ging. Doch es gelingt ihm schnell, sich auf die veränderte Situation
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