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Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Titel: Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
Autoren: Damien Echols
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aneinandergrenzen. Als meine Schwester zur Welt kam, glaubte meine Mutter, für zwei Kinder könne sie nicht sorgen. Deshalb wohnten Nanny und ich in einem kleinen Mobilheim in Senatobia, Mississippi. Ich erinnere mich an diesen lila-weißen Trailer; er stand auf einer mit Kiefern bewachsenen Anhöhe. Wir hatten zwei große schwarze Hunde namens Smokey und Bear, die schon als Welpen zu uns gekommen waren. In einer meiner frühesten Erinnerungen höre ich, wie die beiden Hunde bellen und wie verrückt an ihren Ketten zerren, während Nanny im Garten steht und mit einer Pistole auf eine Giftschlange schießt. Sie hörte gar nicht auf zu schießen – nicht mal, als die Schlange unter den großen Propantank im Garten gekrochen war. Erst später wurde mir klar, dass sie uns alle mit einem Treffer in den Tank in die Luft gejagt hätte. Aber damals war ich so klein, dass ich das ganze Schauspiel nur höchst neugierig verfolgte. Es war das erste Mal, dass ich eine Schlange sah, und dazu kam der spektakuläre Auftritt meiner Großmutter, die zur Hintertür hinausstürmte und losballerte wie ein Revolvermann.
    Meine Großmutter arbeitete als Kassiererin in einer Trucker-Raststätte, und deshalb ließ sie mich tagsüber in einem Kinderhort. Daran erinnere ich mich nur, weil es dort so grässlich war. Ich wurde frühmorgens noch in der Dunkelheit hingebracht in ein Zimmer, in dem andere Kinder auf Pritschen lagen und schliefen. Ich bekam auch eine Pritsche zugewiesen, und man sagte mir, ich solle schlafen, bis Captain Kangaroo anfing, meine liebste Fernsehserie. Das Problem war nur, dass ich unter keinen Umständen ohne mein Kissen schlafen konnte. Also fing ich an zu weinen und schrie aus voller Lunge, und die Tränen liefen mir über das Gesicht. Ich weckte alle anderen Kinder in diesem dunklen Zimmer, sie bekamen Angst, und nach kurzer Zeit weinten und schrien alle, sodass die Erzieherinnen panisch von Pritsche zu Pritsche liefen, um herauszufinden, was los war. Als alle wieder beruhigt und die Tränen getrocknet waren, wurde es Zeit für Captain Kangaroo, und ich war bald vertieft in die epische Saga von Mr Green Jeans und der Elch-Puppe, die in ständiger Angst davor lebten, von einem Hagel von Pingpongbällen überfallen zu werden. Nach diesem Tag vergaß meine Großmutter niemals, mir mein Kissen mitzugeben.
    Wenn sie mich abends zudeckte, tat sie es immer mit dem gleichen Spruch: » Schlafe gut und träume süß, lass die Wanzen nicht an deine Füß’. « Ich hatte keine Ahnung, was Wanzen waren, aber der Vers ließ wenig Zweifel daran, dass sie mir wehtun konnten. Wenn sie die Tür zumachte und mich im Dunkeln allein ließ, konnte ich nur noch an diese nächtlichen Monsterinsekten denken. Ich hatte nie eine klare Vorstellung von ihrem Aussehen, und irgendwie verstärkte diese Unbestimmtheit meine Angst nur noch. Bestenfalls malte ich mir eine Art stinkende Käfer mit verschlagenen Augen und bösartigem Grinsen aus. Ganz gleich, wie müde ich war, wenn sie mich zudeckte – kaum erwähnte sie diese Käfer, war ich hellwach, als hätte sie mir Riechsalz verabreicht.
    Nanny hatte noch einen Spruch, der mir die Haare zu Berge stehen ließ. Spätabends beim Fernsehen waren alle Lampen im Trailer abgeschaltet. Die einzige Beleuchtung war der flackernde blaue Schein des Bildschirms. Nanny drehte sich dann zu mir um und fragte: » Wie macht die Vogelscheuche? « Mir quollen die Augen aus den Höhlen wie auf einer Halloween-Karikatur, und sie starrte mich grimmig an und sagte: » Huu! Huuu! « Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete oder warum eine Vogelscheuche ein Geräusch wie eine Eule machte, aber für den Rest meines Lebens fiel mir das eine nicht mehr ohne das andere ein. Später weckten diese Erinnerungen Heimatgefühle und spendeten mir Trost. Sie wurden zu Symbolen für eine Magick reinster Sorte und erinnerten mich an eine Zeit, in der ich von Sicherheit und Liebe umgeben war. Daran ist etwas, das sich nicht in Worte fassen lässt, aber noch heute geht mir beim Anblick einer Vogelscheuche das Herz auf, und dann möchte ich weinen. Die Erinnerung an die freundlichen Vogelscheuchen auf den Veranden des Südens im Oktober entführt mich an einen anderen Ort, und die Vogelscheuche ist für mich ein Symbol der Reinheit.
    Ab und zu überkommt mich hier in meiner Einzelzelle das Bedürfnis, etwas anderes zu sein. Das Bedürfnis, mich zu verwandeln und die Wirklichkeit aus einer neuen Perspektive zu sehen. Wenn ich das
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