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Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)

Titel: Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
Autoren: Damien Echols
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ziemlich niedergeschlagen. Bevor er ging, sagte er, ich dürfe ihm jederzeit schreiben. Ich nahm ihn beim Wort.
    Wir begannen eine Korrespondenz, und irgendwann bat ich ihn, mein Lehrer zu werden. Er war einverstanden. Kobutsu ist ein Paradox: ein Zen-Mönch, der Kette raucht, halbpornografische Witze erzählt und beifällig geile Blicke auf die weibliche Anatomie wirft. Er ist Heiliger, Jahrmarktschreier, Anarchist, Künstler, Freund und Arschloch in einem Gewand. Ich schloss ihn sofort ins Herz.
    Kobutsu schickte mir Bücher über die alten Zen-Meister, unterschiedliche buddhistische Praktiken und kleine Karten, aus denen man Schreine falten konnte. Nicht lange nach Ju Sans Hinrichtung kam er wieder, um die Zeremonie der Zufluchtnahme für einen anderen Insassen des Todestrakts zu vollziehen. Die Zufluchtnahme ist das buddhistische Äquivalent der christlichen Taufe. Man erklärt seine Absicht, dem Weg des Buddha zu folgen, vor den Augen der Welt. Es war eine schöne Zeremonie, die in meinem Herzen etwas anrührte.
    Unter Kobutsus Anleitung fing ich an mit täglichen Zazen-Meditationssitzungen. Bei der Zazen-Meditation sitzt man still da, konzentriert sich auf nichts als seinen eigenen Atem und sein Ein und Aus. Anfangs war es eine Qual, still dazusitzen und eine Viertelstunde lang auf den Boden zu starren. Nach und nach gewöhnte ich mich daran, und ich konnte meine Sitzungen auf zwanzig Minuten pro Tag verlängern. Ich schaffte meinen gesamten Lesestoff ab und behielt nur Zen-Texte und Meditationshandbücher, und in den nächsten drei Jahren las ich nichts anderes.
    Ungefähr sechs Monate nach der Zufluchtnahme des anderen Gefangenen kam Kobutsu zurück und vollzog die Zeremonie für mich. Die Magick dieses Rituals verzehnfachte meine Entschlossenheit zum Üben. Ich begann jeden Tag mit lächelndem Gesicht, und nicht mal die Wärter konnten mir etwas anhaben. Ich glaube, sie fanden es ein bisschen beunruhigend, einen Mann zu durchsuchen, der dabei die ganze Zeit lächelte.
    Kobutsu und ich schrieben einander weiter Briefe und telefonierten auch miteinander. Die Gespräche mit ihm waren eine Mischung aus Ermutigung, Unterweisung, miesen Witzen und bizarren Geschichten von seinen neuesten Abenteuern. Durch die ständigen täglichen Übungen besserte sich mein Leben entschieden. Ein kleiner Buddha-Schrein aus Papier in meiner Zelle spendete mir Inspiration. Meine Zazen-Meditationssitzungen dauerten bald zwei Stunden täglich, und noch immer wollte ich weiterkommen. Diese so schwer fassbare Erleuchtung, von der ich so viel gehört hatte, hatte ich noch nicht erreicht, und ich sehnte mich verzweifelt danach.
    Ein Jahr nach meiner Zufluchtnahme entschied Kobutsu, dass es Zeit für meine Jukai-Zeremonie war. Jukai ist die Laien-Ordination, bei der man die ersten Gelübde ablegt. Dabei bekommt man auch einen neuen Namen zum Zeichen dafür, dass man ein neues Leben anfängt und das alte abstreift. Nur der Lehrer darf entschieden, wann man bereit ist, das Jukai zu empfangen.
    Bei mir würde Shoda Harada Roshi die Zeremonie vollziehen, einer der größten lebenden Zen-Meister der Welt. Er war der Abt eines schönen Tempels in Japan, und er würde zu diesem Anlass nach Arkansas fliegen. Ich freute mich schon Wochen vorher so sehr auf dieses Ereignis, dass ich nachts kaum schlafen konnte. Am Morgen des großen Ereignisses war ich schon vor Tagesanbruch auf, rasierte mir den Kopf und bereitete mich darauf vor, den Meister zu sehen.
    Kobutsu kam als Erster durch die Tür. Ich sah, wie das Licht auf seinem frisch rasierten rosaroten Schädel blinkte. Ich bemerkte auch, dass er seine gewohnten japanischen Sandalen zugunsten von knöchelhohen Tennisschuhen der Marke Converse aufgegeben hatte. Es war seltsam, diese Turnschuhe unter dem Saum seines Mönchsgewands hervorblitzen zu sehen. Hinter ihm kam Harada Roshi. Er trug das gleiche Gewand wie Kobutsu, aber seins war in makellosem Zustand. Kobutsu hatte gelegentlich Senfflecken auf seinem, aber das schien ihn kein bisschen zu stören.
    Harada Roshi war klein und dünn, aber auch eine eindrucksvolle Erscheinung. Seinem warmherzigen Lächeln zum Trotz hatte er etwas beinahe militärisch Förmliches an sich. Ich glaube, das erste Wort, das mir bei seinem Anblick in den Sinn kam, war » Disziplin « . Er schien über jedes menschenmögliche Maß hinaus diszipliniert zu sein, und das war eine große Inspiration für mich. Noch heute bemühe ich mich, so diszipliniert zu sein wie Harada
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