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Mein Leben bei al-Qaida - Nasiri, O: Mein Leben bei al-Qaida - Inside the Jihad. My Life with Al-Qaida. A Spy's Story

Titel: Mein Leben bei al-Qaida - Nasiri, O: Mein Leben bei al-Qaida - Inside the Jihad. My Life with Al-Qaida. A Spy's Story
Autoren: Omar Nasiri
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abermals auf der letzten Seite. Dann wies ich auf das Foto. Es zeigte ein dreizehn- oder vierzehnjähriges Mädchen mit langem, schwarzem Haar.
    Meine Mutter lächelte. „Über sie musst du nichts wissen. Sie ist nicht mit dir verwandt.“
    Ich war aufgeregt. „Dann kann ich sie heiraten!“
    „Vielleicht, wenn du ein guter Schüler bist.“Meine Mutter lachte, wollte mir aber den Namen des Mädchens immer noch nicht verraten.
    Das Bild blieb mir im Gedächtnis, und einige Jahre später fragte ich meine Mutter erneut nach dem Mädchen. Sie wirkte überrascht. „Du erkennst sie nicht?“
    „Nein“, antwortete ich.
    „Das ist ein Kinderbild von mir! Ich bin das, deine maman!“ Sie lachte, ihre Augen leuchteten, und ich erkannte das Mädchen auf dem Bild.
    Einige Monate nach meiner Rückkehr aus Belgien fand mein Vater eine Arbeit in Sidi Kacem, einer Stadt im Herzen Marokkos. Er wollte, dass wir alle mit ihm dort hinzogen, aber niemand von uns wollte gehen. Tanger war eine geschäftige, kosmopolitische Stadt, die Europa mehr glich als irgendein anderer Ort in Marokko. Sidi Kacem jedoch war ein Provinzkaff in einem unterentwickelten Teil des Landes. Meine Eltern stritten sich unentwegt über dieses Thema.
    Eines Tages kam mein Vater nach Hause und war wegen eines Streits am Vorabend immer noch wütend. Meine Mutter, mein älterer Bruder Hakim und ich waren zu Hause, als er zur Tür hereinkam. Sofort brüllte er meine Mutter an, und sie schrie zurück. Daran hatten wir uns inzwischen gewöhnt. Doch dann trat mein Vater meine Mutter, und sie ging zu Boden.
    Ich sah zu meinem Bruder hin und erwartete dabei einen Hinweis, ob wir etwas tun sollten. Normalerweise sagte mir Hakim, was ich zu tun hatte. Er war mein älterer Bruder und erinnerte mich auch ständig daran. Mein Bruder war ein Tyrann, und dennoch war ich stolz auf ihn, denn er beschützte mich und meine Brüder und Schwestern. Wenn er Geld in der Tasche hatte, nahm er uns oft ins Kino mit oder gab uns ein paar Dirham, damit wir uns etwas kaufen konnten.
    Aber jetzt sah mir Hakim nicht einmal in die Augen, er schaute nur zu Boden. Natürlich tat er das Richtige. Als Muslime wussten wir, dass die uneingeschränkte Autorität des Vaters niemals in Frage gestellt werden durfte. Aber meine Mutter weinte und schrie, und ich sah, dass sie Angst hatte und Schmerzen litt. Das konnte ich nicht ertragen.
    Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits größer als mein Vater, und er machte mir keine Angst mehr. Ich ging zu ihm hin und riss ihn von meiner Mutter weg. Ich hob ihn hoch und trug ihn zur Haustür hinaus, wo ich ihn wieder absetzte. Dabei blickte ich ihm fest in die Augen. Ich sah, dass er sehr wütend auf mich war, aber zugleich hatte er auch Angst. Doch seine Gedanken interessierten mich nicht mehr.
    „Tu das nie wieder“, sagte ich zu ihm. Ich ging ins Haus zurück und schloss die Tür hinter mir. Meine Mutter sagte nichts. Ich sah, dass sie immer noch Angst hatte, aber auch schockiert war darüber, was ich getan hatte. Ich sah zu Hakim hinüber, er blickte jedoch nicht auf. Er starrte nur zu Boden.
     
    Natürlich wurde mein Vater wieder gewalttätig – viele Male. Aber ich war nicht zu Hause und erlebte es nicht mit. Ein paar Monate nach dieser Auseinandersetzung nahm ich einen Job auf einem Segelschiff an und segelte um die ganze Welt. Ich war froh, fort zu sein, fort aus Marokko, fort von meiner Familie, von allem.
    Bei meiner Rückkehr war meine Mutter weg. Sie hatte sich schließlich scheiden lassen und war mit einigen meiner Brüder und Schwestern nach Belgien zurückgegangen. Aber ich bin meiner Familie so entfremdet gewesen, dass mich dies nicht weiter störte.
    In den folgenden zehn Jahren lebte ich in Marokko ganz allein, manchmal auf der Straße, manchmal in Hotels, je nachdem, ob ich gerade Geld hatte oder nicht. Ich trank viel, rauchte täglich Haschisch, hörte Reggaemusik und schlief mit vielen Frauen. Ich dachte nicht über meine Zukunft nach. Wenn ich Geld hatte, gab ich es aus. Hatte ich keins, machte mir das nicht viel aus.
    Zunächst arbeitete ich als Fremdenführer und führte den Teppichverkäufern die Touristen zu. Das konnte ich gut. Als Kind hatte ich so viel Zeit alleine verbracht und dabei andere Menschen so gründlich beobachtet, dass ich gelernt hatte, die Leute einzuschätzen. Anhand weniger Einzelheiten konnte ich eine ganze Persönlichkeit erkennen – dafür reichten das Hochziehen einer Augenbraue, eine Geste mit der Hand, eine
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