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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien
Autoren: George Orwell
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aneinander vorbei, als seien wir uns völlig fremd. Das war furchtbar. Ich kannte ihn seit Monaten, ich hatte einen Unterstand mit ihm geteilt, er hatte geholfen, mich nach meiner Verwundung aus der Front zu tragen, und doch war es das einzige, was man tun konnte. Die blauuniformierten Wächter schnüffelten überall herum. Es wäre fatal gewesen, zu viele Leute zu begrüßen.
    Das sogenannte Gefängnis war in Wirklichkeit das Erdgeschoß eines Geschäftes. Man hatte an die hundert Leute in zwei Räume hineingepfercht, von denen jeder etwa sechs mal sechs Meter groß war. Das Gefängnis sah aus wie das Newgate-Gefängnis auf einem Kalenderbild aus dem achtzehnten Jahrhundert, vor allem der abstoßende Schmutz, die zusammengedrängten menschlichen Körper, die Räume ohne Möbel, nur mit blankem Steinboden, einer Bank, einigen zerlumpten Decken und in fahles Licht getaucht, da man die verrosteten Stahljalousien vor den Fenstern herabgelassen hatte. Auf den nackten Wänden standen revolutionäre Parolen: »Visca P . O . U . M !«, »Viva la Revolution!« und so weiter. In den letzten Monaten hatte man dieses Gebäude als Abladeplatz für politische Gefangene benutzt. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm von Stimmen, denn es war Besuchsstunde und das Gebäude war so voller Menschen, daß man sich nur schwer fortbewegen konnte. Fast alle gehörten der ärmsten Arbeiterschicht der Bevölkerung an. Man sah, wie Frauen erbärmliche Lebensmittelpakete öffneten, die sie für ihre gefangenen Männer mitgebracht hatten. Unter den Gefangenen waren auch einige Verwundete aus dem Sanatorium Maurin. Zwei von ihnen hatten amputierte Beine, einen hatte man ohne Krücken in das Gefängnis gebracht, und er hüpfte auf einem Fuß herum. Ich sah auch einen Jungen, der nicht älter als zwölf war; anscheinend verhafteten sie auch Kinder. Im Gebäude herrschte ein bestialischer Gestank, den man immer dort bemerkt, wo eine große Menschenmenge ohne anständige hygienische Verhältnisse zusammengepfercht wird.
    Kopp bahnte sich einen Weg durch die Menge, um uns zu begrüßen. Sein plumpes, frisches Gesicht sah nicht anders als sonst aus, und er hatte seine Uniform selbst in diesem schmutzigen Gebäude saubergehalten und es sogar bewerkstelligt, sich zu rasieren. Außer ihm war noch ein zweiter Offizier in der Uniform der Volksarmee unter den Gefangenen. Als sie sich in der Menge aneinander vorbeidrückten, grüßten er und Kopp sich. Die Geste war irgendwie pathetisch. Kopp schien in glänzender Verfassung zu sein. »Nun, ich vermute, wir werden alle erschossen!« sagte er gut gelaunt. Das Wort »erschießen« gab mir einen inneren Schauder. Es war noch nicht lange her, daß mein Körper von einer Kugel getroffen wurde, und ich erinnerte mich sehr lebhaft daran. Der Gedanke, daß es jemand passieren könne, den man gut kennt, ist nicht schön. Damals hielt ich es für selbstverständlich, daß alle wichtigen Leute in der P.O.U.M. erschossen würden, unter ihnen natürlich auch Kopp. Die ersten Gerüchte vom Tode Nins sickerten durch, und wir wußten, daß die P.O.U.M. des Verrates und der Spionage beschuldigt wurde. Alles deutete auf einen großen Schauprozeß hin, dem ein Gemetzel der führenden »Trotzkisten« folgen würde. Es ist schrecklich, wenn man einen Freund im Gefängnis sieht und weiß, daß man selbst keine Macht hat, ihm zu helfen. Denn es gab nichts, was man tun konnte. Es war sogar nutzlos, sich an die belgischen Behörden zu wenden, denn Kopp hatte die Gesetze seines eigenen Landes gebrochen, als er hierherkam. Das Sprechen mußte ich vor allem meiner Frau überlassen. Mit meiner krächzenden Stimme konnte ich mich bei dem großen Lärm nicht verständlich machen. Kopp erzählte, daß er sich mit einigen anderen Gefangenen angefreundet habe. Er sagte uns, daß einige der Wachtposten gute Kerle seien, andere aber schlügen und mißhandelten die schüchterneren Gefangenen. Die Verpflegung, meinte er, sei nur ein »Schweinefraß«. Zum Glück hatten wir daran gedacht, ihm ein Paket Lebensmittel und auch Zigaretten mitzubringen. Dann erzählte uns Kopp von den Papieren, die man ihm abgenommen hatte, als er verhaftet wurde. Darunter war auch ein Brief des Kriegsministers an den Kommandierenden Oberst der Pioniereinheiten der Ostarmee. Die Polizei hatte den Brief beschlagnahmt und sich geweigert, ihn zurückzugeben. Angeblich sollte er im Büro des Polizeichefs liegen. Vielleicht würde es sehr wichtig sein, den Brief
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