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Mein Jahr als Mörder

Mein Jahr als Mörder

Titel: Mein Jahr als Mörder
Autoren: Unbekannter Autor
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Glück fing ich an, sie um ihre Freiheit zu beneiden, um die lockere Entschiedenheit, einen neuen Aufbruch zu wagen und eine neue Welt zu erobern. Vielleicht waren auch die Mondfahrer da oben schuld, mich erfasste jedenfalls, im Gras am Tegeler See liegend, eine diffuse Sehnsucht, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und meine Schritte auf unbekannten Boden zu lenken. Ein banaler Nachahmungstrieb vielleicht, zum ersten Mal stieg der Wunsch in mir auf, Catherine nach Mexiko zu begleiten. Dafür war es zu spät, sie hatte mit Astrid alles geregelt, Visum und Flugticket waren so schnell nicht zu beschaffen, außerdem hätte ich die Verzögerung meiner Vorhaben nicht leicht verschmerzt, vor allem hatte ich kein Geld. Ich sagte lieber nichts, ich hätte mir nur ihren Zorn zugezogen.
    Mit dem Aufflackern dieser Sehnsucht spürte ich wieder die Wellen der tieferen Zweifel. Die Pläne mit R. kamen mir altmodisch, eng, rückwärts gewandt vor, und das waren sie ja auch. Rache an einem Nazirentner nehmen, das hatte wirklich nichts von Catherines oder Neil Armstrongs Kühnheit. Die Opfer der Nazis und der Justiz der fünfziger Jahre rehabilitieren, schön und gut, aber das war doch sehr deutsch, starr, schwarzweiß gedacht. Wieder formte sich der Ansatz des Gedankens, der zum schärfsten Urteil wurde, das ich in schwachen Momenten gegen mich fällte: Das machst du ja alles nur, weil du moralisch besser sein willst als die ändern! Und auch noch Profit schlagen aus der Moral!
    Von alldem sagte ich kein Wort. Ich nahm mir nur vor, das Groscurth-Buch schneller als geplant fertig zu haben, bis Catherines Rückkehr Ende September. Gleichzeitig fürchtete ich mich vor dem Abschluss dieser Arbeit, weil dann der Ernst beginnen müsste, die Tat, die ich von mir verlangte. Ich litt, meistens nur für Minuten, unter der berühmten Angst vor der eigenen Courage. Oder vor der Verlegenheit, im Fall des Erfolgs der Doppelstrategie von Wort und Tat der Held, der Märtyrer zu sein, festgelegt auf eine öffentliche Rolle, auf den Podien der Universitäten und Akademien, vor Kameras und Mikrofonen, und zuerst ein Anti-Nazi-Star im Knast - gerade jetzt, wo Catherine und die Astronauten mich ins Weite lockten.
    Auf dem Rückweg kamen wir am Humboldt'sehen Fa-miliengrab vorbei und lasen die Namen: von Humboldt, von Bülow, von Heinz.
    - Was für ein Abstieg, sagte ich.
    - Wer weiß, wie unsere Nachfahren absteigen werden, meinte sie.
    Eine irritierende Bemerkung, die nicht in die Zeit und nicht in mein Denksystem passte. Dachte sie daran, mit mir Kinder zu haben?
    Auch dieser Punkt blieb im Schweigen stecken. Wir liefen zum Auto, um die Fortsetzung auf dem Mond nicht zu verpassen. Gegen sieben sollte die Landefähre starten und an das Raumschiff andocken. Schafft es der Adler, vom Mond abzuheben, wird die Rückkehr zur Erde gelingen? In vierhunderttausend Kilometer entferntem Staub ging das Drama um Leben, Tod und Technik weiter. Unser Drama dagegen, wir erkannten es nicht einmal aus Millimeternähe. Eine Woche später, am Bahnhof Zoo, im Fenster des Interzonenzugs, sah ich Catherine zum letzten Mal. Und, wie ich mir bis heute einbilden will, zum ersten Mal mit Tränen auf den Wangen.
Immer noch ist kein Schuss gefallen
    Das Ende meiner Beichte ist schnell erzählt: Es muss im August gewesen sein, als ich irgendwo las, R. befinde sich in einer Herzklinik im Allgäu. In dem Artikel wurden Zweifel angedeutet, ob das eben angelaufene Revisionsverfahren gegen einen Herzpatienten überhaupt durchgezogen und abgeschlossen werden könne.
    Meine monatelangen Anstrengungen, den Mörder des Vaters des Freundes möglichst effektvoll zur Strecke zu bringen, sollten sinnlos gewesen sein? Ich war empört: Nein, R. durfte mir nicht entwischen, sich nicht wie ein Feigling aus meinem Schussfeld entfernen. Im Schwung des schlau erdachten Doppelprojekts gebremst, bat ich den Sensenmann, mir den Vortritt zu lassen, weil das besser und nützlicher für die Gesellschaft sei als das übliche banale Ende.
    Alberne Grübeleien im Konjunktiv, die schnell abgelöst wurden von einer stillen Erleichterung, den Mord vielleicht doch nicht ausführen zu müssen. Nicht die Skrupel vor dem Schießen oder vor der Ermordung eines Nazirentners ließen mich einhalten - sondern die Schüsse auf einen Herzpatienten. Schäbig wäre das, kein Zeichen souveränen Muts, kein befreiender politischer Akt.
    Erst jetzt gestand ich mir ein, wie tief ich schon in Zweifeln verstrickt war. Mit den
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