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Mein ist der Tod

Mein ist der Tod

Titel: Mein ist der Tod
Autoren: Gert Heidenreich
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hallte im Kirchenraum. Alexander Swoboda, der im Reitsitz viereinhalb Meter hoch auf den obersten Sprossen einer hölzernen Stehleiter hockte, erkannte in der dünnen schwarzen Gestalt mit leuchtender Glatze den Redakteur Wilfried Herking vom Kulturteil der Zungerer Nachrichten , der im Gang zwischen den Bänken stand und zu ihm heraufsah.
    Swoboda ließ die in unterschiedlichen Gelbtönen bemalte Papierbahn, die er vor den Rundgiebel des Ostfensters gehalten hatte, nach unten gleiten. Sie rauschte zu Boden und legte sich am Fuß der Leiter in Wellen.
    Zeit?, rief er hinab. Seit ich pensioniert bin, habe ich überhaupt keine Zeit mehr.
    Er stieg langsam abwärts. Die Leiter schwankte, die Sicherungskette klirrte. Herking griff nach den Holmen und hielt sie fest.
    Ich würde dich nicht stören, wenn es nicht wichtig wäre.
    Denke ich mir. Ich hoffe, es hat mit der Auferstehung zu tun oder wenigstens mit dem Glasfenster, das vor dem Krieg hier drin war? Du hast versprochen, mir Farbbilder zu besorgen.
    Herking schüttelte den Kopf. Wenn er wollte, konnte er blicken wie ein Hund und dabei die Stirn bis zur Mitte seines nackten Schädeldachs in Falten legen.
    Also geht es nicht um Kunst?
    Nein.
    Und nicht um einen Augenblick Zeit, sondern um mindestens eine Stunde?
    Ja.
    Das trifft sich, sagte Swoboda. Ich merke grade, dass ich seit heute früh nichts gegessen habe. Das Licht ist auch nicht mehr gut. Hilf mir, der Entwurf muss eingerollt werden, wir gehen zu Da Ponte .

    Die beiden Männer liefen schweigend auf der Hauptstraße in Richtung Schillerplatz, bogen kurz davor links in die Tuchwebergasse ein, die seit dem achtzehnten Jahrhundert nahezu unverändert erhalten geblieben war, trafen an ihrem Ende auf den Hohenzollerndamm am rechten Mührufer, dem sie folgten. Ein Jogger in schwarzer Hose und Kapuzenanorak überholte sie. Auf seinem Rücken war ein auffälliger Köcher festgeschnallt. Sie liefen am Zungener Krankenhaus vorbei und gelangten kurz darauf zum Restaurant Da Ponte , dessen korpulenter Wirt Swoboda mit einer Umarmung begrüßte und an seinen Tisch führte.
    Oder wollt ihr draußen?
    Die für den April ungewöhnliche Wärme hatte noch nicht nachgelassen. Sie nahmen Platz an der Balustrade der Veranda, die freitragend über das Ufer hinausragte. Durch die Ritzen zwischen ihren Holzbohlen konnte man das Wasser der Mühr fließen sehen.
    Swoboda legte seinen Arm aufs Geländer und blickte über den Fluss. Er hatte dieses späte Licht gern, wenn das Wasser russischgrün eindunkelte und die Luft darüber ihren rötlichen Abendglanz bekam, der bald in leuchtendes Karmesin mit Gluträndern an den Wolken übergehen würde. Seit seinem Abschied vom Polizeidienst erlebte er die Tageszeiten nicht mehr als Ablauf der Termine, sondern als Wechsel der Lichtfarben, und stellte sich jeweils die Mischung vor, die er dafür auf seiner Palette ansetzen würde.
    Herking bestellte Schwertfischcarpaccio mit Rucola und Ossobuco mit Polenta, Swoboda, wie üblich, eine halbe Portion Linguini mit Flusskrebsen, danach Kalbsleber in Salbeibutter mit Rotweinrisotto. Sie einigten sich auf einen 2007er Montevetrano Colli di Salerno aus Kampanien, bei dessen Preis sie sicher sein konnten, nur eine Flasche zu trinken.
    Swoboda aß schweigend seine Pasta und wartete, dass der hagere Mann mit dem rasierten Schädel ihm gegenüber, der sein Sohn hätte sein können, ihn etwas fragen würde. Der zupfte die hauchdünnen, mit geschrotetem Pfeffer bestreuten Schwertfischscheiben auseinander, träufelte Zitrone darauf und schien, während er kaute, nachzudenken, weshalb er mit Swoboda hierhergekommen war.
    Wilfried Herking war ein vorsichtiger Mensch. Schon als Kind hatte er, von der Mutter dazu angehalten, beim Klettern, Rennen, Balancieren mehr an die möglichen Gefahren als ans Vergnügen gedacht. Jetzt quälte ihn der Gedanke, dass ein falscher erster Satz Swobodas Widerwillen gegen jede kriminalistische Überlegung verstärken könnte. Außerdem fühlte er sich als Leiter des Feuilletons zu guten Formulierungen verpflichtet.
    Viel zu schreiben hatte er nicht, die ZN waren ein Kopfblatt, dem der Nachrichtenmantel, die Wirtschaft und der internationale Sport von einer überregionalen Zeitung zugeliefert wurden. Wenigstens überließ man ihm das Gebiet, auf dem er Experte war: die Oper. Gelegentlich durfte er zu Premieren reisen und Kritiken für die Zentralredaktion schreiben. Er bewunderte Swoboda, der noch vor Erreichen der Altersgrenze aus
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