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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch
Autoren: Ralph Giordano
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sie sich mit einem Eimer in der Hand umdreht.
    Den läßt sie jetzt fallen, macht eine Bewegung, als wollte sie eine Halluzination verscheuchen, ruft: »Ich kann es nicht glauben!« -und dann liegen wir uns in den Armen.
    Ein sanfter Sommerwind fächelt hoch, streichelt Gesicht und Haut. Von der See her leichtes Rauschen, Puffin Islands festlandsnaher Höcker wie bemoost, und die Skelligs, der Große und der Kleine, so klar wie weit hinten the bull, the cow und the calf.
    Dann kommt sie mit mir zum Haus am Kliff, tief nach vorn gebeugt auf den Stock gestützt, läßt ihn vor der Tür stehen, setzt sich drinnen, hält genau unsere Rituale ein: Ich soll erzählen.
    Das tue ich bis zur Erschöpfung vor ihrer unstillbaren Neugierde, worüber es später Nachmittag wird. Sie erfährt von Mallard Point, von Achill Island, von Dublin und vom »anderen Irland«. Sie hört zu, stellt Fragen, steht manchmal auf, wie in besonderer Erregung, stemmt dabei die linke Hand in die Hüfte, und setzt sich wieder schwer auf ihren Stuhl.
    Abends bin ich bei ihr.
    Drinnen alles wie immer. Rauchige Wärme, an den Wänden die Heilige Familie, Joseph, Maria, das Jesuskind; der Gesalbte auch allein, mit dem Strahlenkranz ums Haupt; die Fotos von den Enkelinnen und Enkeln; auf dem Schrank die Trophäen des Hundezüchters Michael, der sich heute sowenig sehen läßt wie damals, und im Herd das Torffeuer.
    Dann und wann kommt Maureen ächzend aus ihrem Sessel hoch, verbittet sich mit warnendem »Hopeless!« auch nur die Andeutung von Hilfe, wirft eine Sode nach und gießt Tee ein. Manchmal verzieht sie das Gesicht, wie bei starken Schmerzen, fängt sich aber sofort wieder und lächelt dann, als wollte sie sich entschuldigen. Der Krückstock lehnt an der Wand. Ich kenne die Regeln hier und bin darauf bedacht, sie streng einzuhalten.
    Als ich mich verabschiede, spät, hält Maureen meine Hand länger in der ihren und kündigt mit einem Unterton, der jeden Widerspruch ausschließt, an: »Morgen besuchen wir beide Perryl Er wohnt auf Valentia Island. Ich habe ihm von dir erzählt. Er ist einverstanden, daß du kommst.«
    Ich habe keine Ahnung, von wem die Rede ist, und das muß man mir angesehen haben. Maureen reagiert auf meine
    Unkenntnis mit dem Satz: »Wir kennen uns seit meinem elften Lebensjahr.«
     
    Die Fahrt am nächsten Vormittag, einem der letzten Augusttage, geht durch dichten Nebel, Vorboten des Herbstes, der nach dem irischen Kalender schon Anfang des Monats sein Regiment angetreten hat, ohne daß davon bis gestern etwas zu spüren gewesen wäre.
    Jetzt abergeht es durch eine dicke Suppe über die Brücke von Portmagee auf die Insel, und vorbei an Chapeltown und Knight’s Town fast ohne Sicht bis vor ein einstöckiges Haus, das einsam in der Gegend steht. Das erste, was ich sehe, ist eine Pfanne mit Brot vor der Tür - Katzenfutter. Dann kommt Perry heraus, Pfeife im Mund, umarmt Maureen mit der Gestik einer uralten Freundschaft und reicht dann mir die Hand.
    Erst als wir hineingehen, entdecke ich, daß er das rechte Bein nachzieht. Perry sieht meinen Blick und sagt, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen: »Verkehrsunfall, 1955. Damals war ich zwanzig.« Seine Heiterkeit scheint durch den Dauerschaden nicht gelitten zu haben.
    Er steckt in Schuhen, deren Bänder lose herabbaumeln, in einer gelbe Hose, manchesterartig, und trägt ein Hemd mit offenem Kragen. So führt er uns ins Haus, läßt Maureen den Vortritt und plaziert sie und mich auf Stühle in der Küche, wo wir bleiben werden.
    Das Chaos, das sich ringsum dem Auge bietet, ist unbeschreiblich. Über dem torfbefeuerten Herd eine Leine mit Strümpfen, auf einer Kommode ungeputzte Stiefel, auf dem Tisch Tabakkrümel und irgendeine Medizin, an der Wand, schief, ein Bildnis des Papstes und in einem Glas Messer, Löffel, Gabeln.
    Mittendrin strahlt Perry übers ganze Gesicht, zündet sich dauernd die ausgegangene Pfeife an und erzählt mir, erst stockend, dann immer fließender, über sein Leben - »for the book!«, wie Maureen, die hier die Regie führt, klärt.
    Sechzig ist er vor kurzem geworden, was bedeutet, daß die über siebzigjährige Maureen, wenn sie ihn seit ihrem elften Lebensjahr kennt, Perry von der Wiege an erlebt hat. Die Sippe ist auf Valentia Island seit acht Generationen ansässig, kinderreiche Familien, nur Perry ist, ungewöhnlich genug, das einzige Kind seiner Eltern geblieben. »Einer von meiner Sorte ist genug«, sagt er, in einem Englisch, das nicht ganz
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