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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch
Autoren: Ralph Giordano
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ganz und gar urwaldfreien Nordirland. Der kleine Unterschied besteht nur darin, daß es damals keine Wahl gab, die Quellflüsse des Amazonas anders als auf diese Weise zu überqueren, wenn das ganze Unternehmen nicht scheitern sollte, während hier keinerlei Notwendigkeiten vorliegen, sondern nichts als die blanke Freiwilligkeit waltet.
    Die Brücke, auch ohne Belastung schon in permanenter Bewegung, rastet sich, sobald sie beschritten wird, in eine Schwingung ein, die auszubalancieren selbst einem Weltmeister der Seiltänzer zur Ehre gereichen würde.
    So ergeht es, zum Beispiel, in dieser Minute dem Vater mit Kind auf den Schultern, der da - nein, nicht über die Brücke geht, sondern läuft! Wobei er sich nicht an den Seilen festhalten kann, weil er die Beinchen des Kleinen mit beiden Händen gepackt hat. Aber von hüben und drüben mit allerlei Anfeuerungsrufen und langanhaltendem Applaus bedacht, erreicht er auf der Inselseite festen Boden. Übrigens, je ängstlicher man sich beim Übergang verhält, desto lauter ist die tönende Belohnung für alle, die es trotzdem wagen.
    Davon profitiere schließlich auch ich - denn obwohl ich mir die redlichste Mühe gebe, auf der Rope Bridge den gelangweilten Helden zu mimen, werde ich offensichtlich bis auf den Grund durchschaut: Niemand, so jedenfalls habe ich den Eindruck, provozierte lautstärkere Zurufe wie »Bravo! Prima! Nur weiter!« als ich.
    Tatsächlich denke ich kleinmütig über dem gähnenden Abgrund: Sollte es dich erwischen und du fielest jetzt die 25 Meter von der Brücke herunter, dann, »Mein irisches Tagebuch«, ade, ade... Denn das Wasser da unten, auf dessen Spiegel du prallen würdest, ist nur wenige Meter tief und könnte die Wucht des Sturzes nicht abfangen.
    Doch nichts da, ich komme unversehrt an, den unverdienten Beifall mit falscher Bescheidenheit abwehrend, innerlich jedoch bereits belastet von der Erkenntnis, daß das wahrhaft Unausweichliche erst noch bevorsteht - nämlich der alternativlose Rückweg.
    Denn die Fischer, die laut Prospekt hier zwischen Mai und September, also zu dieser Jahreszeit, ihrer Arbeit nachgehen sollen und die mich in ihren Booten vielleicht hätten mitnehmen und an Land setzen können, haben heute entweder ihren freien Tag oder den ganzen Trubel satt, denn sie glänzen durch Abwesenheit. Carrick-a-rede, rekapituliere ich mit einem schlechten Gefühl in der Magengrube, Carrick-a-rede istgälisch und bedeutet, durchaus symbolisch fur meine Situation, »Fels auf der Straße«. Nur - eine »Hängebrücke« kann ein noch weit wirksameres Hindernis sein als so ein störender Gebirgsklotz.
    Also rasch wieder hinüber, um es hinter mich zu bringen, je schneller, desto besser, und das in der Hoffnung, nicht abermals zum Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu werden. Was dann auch gegen alle Erwartung, wenngleich für einen hohen Preis, in Erfüllung geht. Denn gleich hinter mir setzt jemand nach, der sich mitten auf der Brücke den Spaß erlaubt, sie durch rhythmische Körperbewegungen so weit über ihre natürlichen Schwingungen hinaus ausschlagen zu lassen, daß sich der fragile Übergang innerhalb weniger Sekunden in eine Schaukel verwandelt, und das, bevor ich noch das andere Ende erreicht habe. Erst dann kann ich - gerettet! - in Ruhe das glasklare Meer bis zur Riesenbarriere der bumerangartig geformten Rathlin-Insel bewundern, und daran vorbei den Mull of Kyntire erkennen, die Silhouette der schottischen Küste mit ihren Klippen und dem düsteren Profil des gebirgigen Hinterlands.
    Von da drüben, hinweg über den schmalen Wassergraben, sind sie im 17. und 18 Jahrhundert gekommen, die setders, Ulsters protestantische Siedler, als Herren über ein so gut wie rein katholisches Land, mit sich eine soziale, konfessionelle und ethnische Bürde schleppend, deren Last sich die Geschichte Irlands bis hinein in unsere Gegenwart immer noch nicht entledigen konnte.
     
    Baumgestalten wie diese habe ich nirgendwo sonst gesehen.
    Aus dem mächtigen Hauptstamm treten andere dicke Stämme aus, und das nach allen Seiten, geschaffen von einer Natur, die ihrer üppigen Phantasie freien Lauf gelassen hat. Hunderte von Jahren alt, arbeiten ihre Wurzeln tief in der Erde, saugen aus ihr die Kraft, die über unzählige verborgene Kanäle Säfte bis in die vierzig Meter hohe Krone schickt und dem Nadelkleid das immergrüne Aussehen verleiht - Zedern.
    Ich bin in der Cedar Avenue des Tollymore Forest Park, Ulster - es heißt, dies sei die
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