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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch
Autoren: Ralph Giordano
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»Killorglin 22 km«, vertraut - sie erinnern mich an den Anfang meiner Reise, die vor fünf Monaten hier im Süden so winterlich und stürmisch begann. Jetzt legt die Hitze des späten Augustnachmittags einen diesigen Schleier über die Berge von Dingle und, entfernter, über Iveraghs felsiges Rückgrat, die Macgillicuddy’s Reeks und ihr granitenes Haupt, den Carrantuohill, mit seinen 1038 Metern Irlands höchster Berg.
    Über Killorglins alte Brücke und den River Laune auf den Ring of Kerry, auf Lough Caragh und Glenbeigh zu, rechts die Dingle Bay und links herüber zwei Gebirgsketten, scharf abgezeichnet, bläulich wie die mystischen Farben eines fernöstlichen Aquarells. Dann endlich die Ruinen des Geburtshauses von Daniel O’Connell vor Cahirciveen, hinein in die Stadt und ihre quirlige, inzwischen von allen verkehrsbehindernden Arbeiten freie Hauptstraße; der stramme Milizionär mit seinem steinernen Gewehr auf dem Podest immer noch wie ein schmächtiger Mussolini; die große Kirche, Grudle’s Imbißstube und Curran’s Tante-Emma Laden, Johnny Cliffords anarchische Autoreparaturwerkstatt - all das noch völlig unvergessen. Wie der Weg aus der Stadt hinaus, das Schild »Valentia Island«, rechts übers Wasser der helle Fleck von Knight’s Town, und weiter bis zur alten Brücke. Dahinter nach links durch die flache Torflandschaft und auf Serpentinen über sperrige Gebirgskämme hinweg auf St. Finan’s Bay zu; dort vorbei an der Kirche und über den mit Schlaglöchern durchsetzten Pfad bis zu der Stelle, wo gewarnt wird: »Nicht abzweigen nach Portmagee«...
    Keine Gefahr - ich könnte den Weg im Schlaf finden.
    Also hinein mit meinem alten Ford in den Hohlweg und vorbei an dem Wasserfall, der nicht mehr rauscht und strömt wie damals, sondern nur noch schwächlich tröpfelt. Und auch das ist anders als im März, April - Wiesen, Hecken, Sträucher strotzen nur so in Überfülle, auf beiden Seiten Präriemalven, Ginster, Fuchsien - das letzte Stück fahre ich durch eine wahre Explosion von Rot, Gelb und Blau.
    Dann endlich, über die letzte Kimme hinweg, sehe ich sie, klopfenden Herzens, wie ich gestehe, und so verzaubert wie beim ersten Anblick: die Höcker von Puffin Island, den Kleinen und den Großen Skellig, wie zwei Felsdolche, Litde und Michael, maritime Sagengebilde, und - das gelbe Haus von Maureen Griffin!
    Ich mache meinen inneren Entschluß beim Abschied im März wahr, ich kehre noch einmal hierher zurück, ich kann Irland nicht verlassen, ohne Maureen noch einmal einen Besuch abgestattet, sie noch einmal gesehen und mit ihr gesprochen zu haben - es ging nicht. Darum bin ich hier heruntergefahren, quer durch die ganze Insel, von einem Ende zum anderen und ohne Halt: Belfast - Dublin - Limerick und »Moyrsik Gien, Emlagh-more, Killarney, County Kerry«, wie Maureens Postadresse lautet.
    Nur - sie ist nicht da! Ich klopfe, vergebens, Maureen antwortet nicht. Sie ist einfach nicht da.
    Mit dieser Möglichkeit hatte ich nicht gerechnet. Hätte ich mich anmelden sollen? Aber wie? Sie hat, obwohl schon lange beantragt, kein Telefon. Außerdem will ich sie überraschen. Doch was, wenn sie vielleicht für länger weggefahren ist, vielleicht endlich mal Urlaub macht? Was allerdings der erste ihres Lebens wäre, nach allem, was ich von ihr weiß. Soll ich aufgeben, soll ich warten? Es ist eine Jahreszeit, in der jede Umbuchung eines Fährtickets ein höchst ungewisses Terminrisiko bedeutet. Weit kann Maureen eigentlich nicht sein. Wäsche ist aufgespannt, Hunde bellen hinter Verschlägen, auf der Weide grasen Schafe.
    Doch das Haus ist leer, auch Michael, der Sohn, meldet sich nicht, die Tür ist abgeschlossen, und drinnen brennt kein Licht.
    Aber dann, nachdem es dunkel geworden ist, geht die Lampe draußen an, wie ich vom Haus am Kliff aus zu meiner Genugtuung entdecke - nach längerer Abwesenheit sieht das alles nicht aus.
    Die Nacht wird trotzdem schlecht, ich schlafe unruhig, wache später auf als üblich, eile hinüber und klopfe an die Tür. Zu meiner großen Erleichterung erscheint Michael hinter einem Fenster und berichtet, daß seine Mutter nachts um vier von einer Hochzeit in Cahirciveen zurückgekehrt, aber schon wieder weg sei, in der Kirche, wie jeden Sonntag. Ich bitte Michael, Maureen nach ihrer Rückkehr nichts von meiner Anwesenheit zu sagen.
    Um halb zwölf sehe ich, wie sie sich in ihrem Ausgehstaat vor dem Haus zu schaffen macht, setze mich in Gang und stehe zehn Schritt vor ihr, als
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