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Mein grosser Bruder

Mein grosser Bruder

Titel: Mein grosser Bruder
Autoren: Berte Bratt
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Hedwig?“
    „Keinesfalls!“ sagte Elsa. „Hedwig ist nicht mein Fall. Denk an die Rollen, die ich bis jetzt gespielt habe. Erwachsene, raffinierte, intrigante Frauen. Mein Talent ist nicht so umfassend, daß ich mich auf die kleine Hedwig umstellen könnte. Das weiß auch der Chef, er würde mir nie die Rolle anbieten!“
    „Wer kann sie dann spielen?“
    „Wahrscheinlich ein teurer Gast. Tatsache ist, daß wir keine richtige Hedwig am Theater haben. Nun ja, vielleicht lassen sie die ganze Wildente fallen und geben dafür ,Rosmersholm’.“
    „Die Rebekka könntest du spielen“, sagte Torsten.
    „Ja“, stimmte Elsa zu, „die könnte ich spielen. Die Rolle hätte ich gern gehabt. Nun ja, mal sehen, wie es geht. Vorerst pfeife ich auf das ganze Theater und kümmere mich nur um meinen Mann und um Australien!“
    Dann kam der Tag, als ich all meinen Mut zusammenraffte und zum Intendanten ging. Er empfing mich freundlich und sagte gleich ein paar nette Worte über meine Zuverlässigkeit als Statistin, und fragte dann, ob ich etwas Besonderes auf dem Herzen hätte.
    Ich schluckte, biß auf die Lippe – ach, was hatte ich doch für Herzklopfen! – und dann fragte ich endlich, ob er mich eine Probe ablegen lassen wollte. Ich hätte eine Rolle studiert.
    „Glauben Sie bitte nicht, daß ich an Größenwahn leide, Herr Intendant“, fügte ich hinzu. „Ich… ich habe einfach keine Ruhe, bis ich nicht Ihr Urteil bekommen habe, wie es auch ausfallen mag.“
    „Wenn Sie an Größenwahn leiden, dann tun es auch unzählige andere junge Frauen“, schmunzelte der Intendant. „Ahnen Sie vielleicht, wie viele Mädchen bei mir vorsprechen? Natürlich werde ich Sie anhören. Mal sehen“, er warf einen Blick auf seinen Tischkalender, „das paßt ja gut, morgen habe ich eine Stunde frei – kommen Sie morgen vormittag um zehn!“
    „Ich halte dir Daumen und große Zehen!“ versprach mir Torsten. „Und du rufst sofort im Büro an, wenn du zurück bist!“
    Gott sei Dank, Elsa und Johannes waren gerade in Oslo. Sie sollten ja auf keinen Fall wissen, was ich vorhatte!
    Punkt zehn Uhr am nächsten Tag war ich beim Intendanten, mit Band vier von Ibsen unter dem Arm.
    „Na, dann wollen wir mal. Wir gehen auf die Probebühne. Birger Hallwig wird die Stichworte lesen – ach, da sind Sie ja, Birger, das ist fein. So, und was wollen Sie uns nun vorführen, Vivi?“
    „Hedwig“, sagte ich leise. „Hedwig in ,Die Wildente’.“
    Dann saß ich an einem Tisch auf der Probebühne und tat so, als ob ich Fotos retuschierte. Ich kniff die Augen zusammen, ich war die kleine Hedwig, die schlecht sehen konnte, Hedwig, die dem geliebten Vater die langweilige Arbeit abgenommen hatte.
    Birger deutete ein Türklopfen an, ich stand auf und ging ihm entgegen. Und der lange Dialog zwischen Gregers und Hedwig fing an.
    Meine Nervosität war wie weggeblasen. Ich war nicht mehr Vivi, ich war die kleine Hedwig, die ihrem Vater half, die kleine Vierzehnjährige, die ihre Wildente liebte, und die es so unheimlich fand, wenn Gregers von dem „Meeresgrund“ sprach.
    Wir hatten uns an den Tisch gesetzt, wie es vorgeschrieben war, und ich retuschierte weiter, wobei ich mir ein paarmal die Augen rieb. Die Worte zwischen uns fielen so natürlich, so richtig, so wie Ibsen sie uns in den Mund gelegt hatte.
    Als die Szene zu Ende war, wurde es still. Der Intendant und Birger wechselten einen Blick.
    Endlich sprach der Intendant, und seine Stimme war sehr sanft: „Bitte, dann die große Szene im vierten Akt. Birger, lesen Sie bitte Ekdals Repliken. Sie wissen schon.“
    Birger nickte, blätterte weiter, fand die Szene. Ich stellte mich dorhin, wo man sich die Küchentür denken mußte. Und Birger las die verhängnisvollen Worte: „Gregers, ich habe kein Kind!“
    Ich lief auf Birger zu, ich schlang meine Arme um seinen Hals, und es waren echte Tränen, die mir aus den Augen stürzten, als ich rief: „Was sagst du? Vater, Vater!“
    Es ging weiter, und wieder war ich Hedwig, ich litt mit ihr, ich war in ihre Haut gekrochen, ich war ratlos und verzweifelt wie sie. Es war mein eigenes Herz, das blutete, und ich war es, die ich mich tapfer dazu entschloß, die Wildente zu opfern.
    Dann spielte ich die letzte, beinahe stumme Szene. Genau wie Ibsen es vorgeschrieben hat: Hedwig steht einen Augenblick unbeweglich in Angst und Ratlosigkeit. Sie beißt die Lippen zusammen, um die Tränen hinunterzuwürgen, dann ballt sie krampfhaft die Hände und sagt
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