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Mein grosser Bruder

Mein grosser Bruder

Titel: Mein grosser Bruder
Autoren: Berte Bratt
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Schlankheitskost und Kraftnahrung. Daß Johannes und ich trotzdem gesund und kräftig sind, ist ein Beweis für unsere Zähigkeit und Anpassungsgabe.
    Auch meine Schulzeit war von Mamileins Impulsivität geprägt. Ich bin in eine Privatschule, in die gewöhnliche Grundschule und in die Rudolf-Steiner-Schule gegangen. Ich habe eine Tanzschule besucht, einen Ballettkurs und eine Turnschule. Als eine einfallsreiche Haushaltslehrerin einen Kochkurs für kleine Mädchen einrichtete, wurde ich augenblicklich dafür angemeldet. Ich habe Klavierstunden genommen, bis Mamilein eines Tages ein reizendes junges Mädchen mit einem Geigenkasten auf der Straße sah. Das fand sie so entzückend, daß ich anfangen mußte, Geige spielen zu lernen.
    Ich fühle mich zu der Erläuterung verpflichtet, daß ich dennoch nicht Ballett tanzen, nicht Klavier spielen, nicht Violine spielen und nicht turnen kann. Kochen mußte ich mir später selbst beibringen. Tanzen – nun ja, das kann ich – so zum Hausgebrauch.
    Mit Johannes war es anders.
    Ich glaube, Mamilein begriff instinktiv, daß Johannes sich nicht zum Versuchskaninchen eignete. Er ging standhaft und ruhig seinen eigenen Weg. Er brachte von der Volksschule, der Realschule, dem Gymnasium und dem Handelsgymnasium Noten und Zeugnisse nach Hause, die bei ehrgeizigen Eltern Freudenschreie ausgelöst hätten. Aber Mamileins Ehrgeiz ist immer nur sporadisch aufgetreten.
    Johannes war fünfzehn Jahre, als meine Eltern geschieden wurden. Und ich weiß nicht, wie es gegangen wäre, wenn Mamilein nicht Johannes als Rückhalt gehabt hätte. Er war es, der daran dachte, wann Miete und Versicherung und Telefon und Strom bezahlt werden mußten. Er war es, der für Ordnung sorgte, soweit man überhaupt von Ordnung in unserem Heim reden konnte. Er war es, der die Hemdsärmel aufrollte und den Aufwasch in Angriff nahm, wenn er sich allzu hoch in der Küche auftürmte, und der mich zum Abtrocknen und Aufräumen kommandierte. Und es war Johannes, der mich erzog. Es war sogar Johannes, der mich verprügelte. Allerdings nur einmal, dafür aber so gründlich, daß die Abreibung vorhielt.
    Ich werde es nie vergessen.
    An diesem denkwürdigen Tag war ich ungefähr dreizehn bis vierzehn Jahre alt. Ich kam eines Tages ein paar Stunden später als gewöhnlich von der Schule nach Hause, woraus ich mir nicht das geringste Gewissen machte. In unserem Heim kannte man ohnehin nicht den Begriff fester Mahlzeiten. Waren wir zufällig alle drei zur Zeit des Mittagessens daheim, aßen wir zusammen, und es war dann riesig gemütlich. Aber sonst gingen wir eben bloß in die Küche und suchten uns etwas Eßbares.
    An diesem Tag empfing mich Johannes in der Diele.
    „Wo in aller Welt bist du denn so lange gewesen, Vivi?“
    „Auf einer Autotour“, sagte ich strahlend und aufgeräumt.
    „Mit wem?“ fragte Johannes weiter.
    „Mit einem netten Mann natürlich.“
    „Was für ein Mann? Wie heißt er?“
    „Keine Ahnung. – Au, quetsche doch meinen Arm nicht so! Er war furchtbar nett, er hielt seinen Wagen neben mir an und fragte mich, ob ich Lust auf eine Autofahrt hätte, und…“
    „Und du bist mit ihm gefahren? Wo wart ihr?“
    „Ach, wir fuhren erst durch die ganze Stadt und dann gegen Langerud hinaus und dann – ich weiß nicht, wie alle die Orte heißen, und dann – bekam ich Schokolade von ihm – und… au!“
    Johannes hatte mich im Nacken gepackt und hielt mich wie in einem Schraubstock.
    „Ich werde dich lehren, mit fremden Mannsbildern Autotouren zu machen!“
    Diese bewegte Szene fand, wie gesagt, in der Diele statt. Leider lag eine Haarbürste griffbereit, und leider fiel Johannes’ Blick auf sie. Und ehe mir klarwurde, was er sich vorgenommen hatte, fand ich mich über sein Knie gelegt, den Faltenrock hochgezogen, während die Rückseite der Haarbürste auf meinen Hosenboden klatschte.
    Ich brüllte, sowohl vor Schreck als auch vor Schmerzen – zum Schluß nur vor Schmerzen, denn die Rückseite einer Haarbürste haut gräßlich zu, wenn die Hand, die sie schwingt, genügend kräftig ist.
    Und erst, als ich heulte: „Ich werde es nicht mehr tun -Verzeihung, ich werde es nicht mehr tun…“, ließ mich Johannes los.
    Das Ganze war reichlich überraschend gekommen. Nach und nach dämmerte es Johannes wohl, daß ich in gutem Glauben gehandelt hatte. Denn als ich meinen Schmerz fortgeheult hatte und gerade anfing, meinen Wutanfall vorzubereiten, kam Johannes still auf mich zu und strich mir über
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